Der verlorene Sohn von Tibet
und alle Lampen wurden konfisziert.
»Denken Sie am besten gar nicht erst an einen Fluchtversuch«, sagte McDowell. »Sie würden den Weg niemals finden.« Sie öffnete die geballte Faust und zeigte ihnen eine Handvoll Reis.
Kapitel Dreizehn
Bruder Bertrams Leben war ein Wunder. Shan mußte immer wieder an diese unerwarteten Worte der Britin über ihren eigenen Vorfahren denken, während McDowell ihn, Corbett, Yao und Lokesh tiefer in das Durcheinander der Kapellen führte. Khan bewachte unterdessen die anderen.
Die Frau stellte ein Rätsel dar: Kunstdiebin und Menschenfreundin, Partnerin von Direktor Ming, Cousine des Bumpari-Clans, Organisatorin einer Hilfsaktion für tibetische Kinder und laut Corbett eine Mörderin.
»Ich schlage Ihnen ein Geschäft vor«, sagte der Amerikaner zu McDowell. »Vielleicht war es ja Lodis Idee, und Sie wurden mit hineingezogen. Falls ich um Milde bitte, wird der Richter mir zuhören.«
»Ein Geschäft?« fragte sie lachend. »Wofür denn?«
»Für den Prozeß, der Ihnen in Seattle bevorsteht.«
»Seattle? Bis gerade eben waren Sie mein Gefangener in einem unterirdischen Labyrinth auf der anderen Seite des Planeten. Und außerdem …« Sie wandte sich zu ihm um und tat so, als müsse sie angestrengt nachdenken. »Ach ja«, sagte sie mit einem Finger am Kinn. »Sie haben keine Beweise. Kein Beutestück. Keine Spur der Leute am Tatort. Nichts. Ihre Diebe haben sich in Luft aufgelöst.«
»Wir wissen, daß Sie und Lodi in Seattle gewesen und am nächsten Tag abgereist sind. Ihr Flug führte nach Tibet, wo Sie die bei Dolan entwendeten Kunstgegenstände an Direktor Ming übergeben haben.«
»Warum sollten wir das tun?«
»Weil auch Ming die Exponate gestohlen hatte. Die Stücke waren Eigentum der chinesischen Regierung, und wegen der anstehenden Überprüfung mußte er sie zurückholen. GebenSie mir Ming, und Sie können gehen. Falls ich die Beute ohne Ihre Hilfe finde, gibt es keinen Spielraum für Verhandlungen mehr«, warnte Corbett.
»Aber Sie werden gar nichts finden. Sie wissen doch, wie das läuft. Die Sammlung wird aufgeteilt und an Händler in Europa geschickt. Nichts davon läßt sich zurückverfolgen.« Sie schüttelte den Kopf und sah den Amerikaner erstaunt an. Offenbar fiel ihr erst jetzt seine tibetische Kleidung auf. Die Entdeckung schien sie zu besänftigen. »Was ist nur los mit Ihnen?« seufzte sie. »Sie sind ja regelrecht davon besessen. Etwas Wohlstand wird umverteilt. Niemand wird verletzt. Dolan bekommt einen Scheck von seiner Versicherung.«
»Was ist mit dem Mädchen, das getötet wurde?«
Das Lächeln auf Punjis Gesicht verschwand. »Welches Mädchen? Es wurde niemand getötet.«
»Die Erzieherin. Abigail Morgan. Man hat ihre Leiche fünf Tage später aus der Bucht gefischt.«
Die Britin sah ihn durchdringend an. »Reden Sie keinen Blödsinn. Es wurde niemand getötet.«
Corbett schaute zu Lu, der vor ihnen ging. »Er spricht kein Englisch«, sagte McDowell und packte Corbett am Hemd, um seine Aufmerksamkeit zurückzuerlangen. »Verdammt, welches Mädchen?«
»Sie ist in der Tatnacht verschwunden. Sie wollte aus irgendeinem Grund zurück ins Haus und muß etwas gesehen haben. Man hat sie von einer Brücke geworfen.«
»Unmöglich«, flüsterte McDowell und sah zu einem Wandgemälde, das einen Lama mit seinen Novizen zeigte. »Sie können nichts beweisen. Überhaupt nichts. Und ich gebe nichts zu. Aber nur mal angenommen, zwei Leute würden wegen eines solchen Einbruchs extra per Flugzeug anreisen, dann wären das Leute, die sich nur für die Kunstwerke interessieren. Rein geschäftlich. Womöglich«, sagte sie und fixierte Corbett mit traurigem Blick, »wären die Leitungen der Alarmsensoren an drei Stellen durchtrennt, nämlich an der Videoanlage, dem Schaltkasten im Haus und dem eigenständigen Polizeialarm am Zaun. Eventuell hätte man zwar die komplette tibetische Sammlungmitgenommen, aber keines der anderen Stücke. Und vielleicht wäre ja auch der Schloßzylinder der Hintertür herausgedrückt worden, und die Diebe hätten Latexhandschuhe getragen und keine Fingerabdrücke hinterlassen.« Es war praktisch ein Geständnis. McDowell wollte, daß Corbett ihr glaubte, begriff Shan. Sie versicherte, daß sie und Lodi keine Mörder seien.
»Könnte es nicht eine dritte Person gegeben haben, die nicht ständig bei Ihnen war?« fragte Shan.
»Nein, ausgeschlossen«, sagte McDowell, ohne den Blick von Corbett abzuwenden. »Sie wissen nicht mit
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