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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Lehrtexte identifizierten, aus denen die Inschriften abgeleitet waren. Yao saß erschöpft mit einer Wasserflasche und seinem Lageplan am Boden und fragte, ob jemand einen Sinn in der Anordnung der Räume oder gar den Zugang zu einem weiteren Tor erkennen könne. Shan betrat die nächste dunkle Kammer. Er schirmteseine Lampe mit der Hand ab, schaute in die Finsternis und mußte sich zwingen, nicht nach seinem Sohn zu rufen. Schließlich schaltete er die Lampe aus, setzte sich und lauschte.
    Sogar die Stille in diesem Tempel war von einzigartiger Beschaffenheit. Shan kannte viele Höhlen, aber dieser Ort fühlte sich anders an. Es hing eine merkwürdige Leichtigkeit in der Luft, eine unsichtbare Energie. Nach einigen Minuten vernahm Shan ein leises Geräusch, ein tierähnliches Brummen, das an- und abschwoll. Er stand im Dunkeln auf und tastete sich mit ausgestrecktem Arm voran. Zuerst stieß er nur auf Wände, aber dann konnte er aus einem unerfindlichen Grund spüren, wo die Durchgänge lagen, und so ging er von Kapelle zu Kapelle, ohne Reis zu streuen oder mit dem Fels zu kollidieren, bis dicht vor ihm jemand erschrocken aufstöhnte. Shan erstarrte, schaltete aber noch immer nicht die Lampe ein.
    »Es ist ein sehr alter Ort«, sagte er. »Falls du es zuläßt, wird er dir Kraft verleihen.« Er hörte jemanden angespannt einatmen.
    »Ich war müde«, gab Ko schroff zurück. »Ich habe geschlafen, und jetzt hast du mich geweckt.«
    Shan machte einen Schritt auf die Stimme zu, blieb stehen und kehrte kurz in die angrenzende Kammer zurück, um leise seine ausgeschaltete Lampe am Boden abzulegen. Dann ging er zu seinem Sohn.
    »Ich habe etwas zu essen«, sagte er. »Ein paar Walnüsse.« Er streckte den kleinen Beutel aus, den er in seiner Jacke bei sich getragen hatte.
    Als Ko nicht reagierte, glaubte Shan im ersten Moment, er sei geflohen. Dann hörte er Kleidung rascheln. Eine Hand berührte den Beutel, packte ihn und zog ihn weg.
    »Hast du kein Licht?« fragte Ko nervös.
    »Nein.«
    »Wie hast du hergefunden?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte Shan wahrheitsgemäß.
    Er hörte, wie sein Sohn knirschend eine Nuß zerkaute. »Ich brauche was zu trinken.«
    »Ich habe nichts.«
    Aus der Schwärze ertönte ein abfälliges Schnauben.
    Shan schwieg, wandte sich dem Geräusch zu und versuchte, gegen den Schmerz in seinem Herzen anzukämpfen. Sie befanden sich an einem der schönsten Orte, die er je gesehen hatte, und sein Sohn füllte sich die Taschen mit Diebesgut, empfand nichts als Zorn und Gier.
    »Mich kann niemand aufhalten.« Kos Stimme in der Dunkelheit war wie das Knurren eines Höhlentiers.
    »Dich wird niemand aufhalten. Wir sind aus einem anderen Grund hier. Aber später, falls du es lebend nach draußen schaffst, wird man Truppen nach dir ausschicken. Die Soldaten in diesem Bezirk langweilen sich. Du hast Yao gehört. Sie werden sich einen Spaß daraus machen, wie bei den Leopardenjagden, die sie manchmal veranstalten.«
    »Die Scheißsoldaten flößen mir keine Angst ein.«
    Shan seufzte und fragte sich, welche Gottheit von den Wänden auf sie herabschaute. »Ich weiß nicht, wie man ein Vater ist«, sagte er sehr langsam. »Aber ich könnte versuchen, ein Freund zu sein.« Er brachte das nur über die Lippen, weil es so dunkel war und er dabei weder seinem Sohn noch den Göttern in die Augen sehen mußte.
    Es erklang abermals das verächtliche Schnauben.
    »Tut mir leid. Ich werde jetzt gehen«, sagte Shan und wandte sich ab. Die Finsternis wirkte nun irgendwie anders, als würde sie sich immer enger um ihn legen. Einen Moment lang verspürte er den verzweifelten Wunsch, wieder an die Oberfläche zu gelangen, ins Licht und an die frische Luft, weit weg von allem.
    Dann meldete sich hinter ihm eine verunsicherte Stimme zu Wort. »Deine Bande«, sagte Ko. »Was ist aus ihr geworden?«
    Shan hatte zehn Jahre darauf gewartet, ein echtes Gespräch mit seinem Sohn führen zu können, und es war ihm wie ein Jahrhundert vorgekommen. Nun aber, als endlich die entsprechende Gelegenheit da war, erkundigte Ko sich nach Shans Bande. Shan drehte sich um. »Ich habe es dir unterwegs schon einmal gesagt: Es hat nie eine Bande gegeben. Ein paar einflußreiche Leute haben mich ins Gefängnis gesteckt, damit ich nicht weiter gegen sie ermitteln konnte.«
    »Ich dachte, du hättest gelogen, um diesen verfluchten Inspektor zu beeindrucken.«
    Shan ging einen weiteren Schritt auf seinen Sohn zu. »Ich hatte damals eine

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