Der verlorene Sohn von Tibet
langen Pause von mehr als einem Jahr gab es schließlich einen Eintrag, über dem »Lhasa 1906« stand, gefolgt von einigen Abschnitten über einen magischen geheimen Ort, an den ihn sein Lehrer mitgenommen hatte und den er nie wieder verlassen wollte. Shan hielt inne und las einen freudigen Absatz über die Geburt einer Tochter.
Im Anschluß an einen Eintrag aus dem Jahr 1934 folgte eine Seite, in deren Mitte nur ein einziges Wort stand: Zhoka. Dann meldete sich zum erstenmal Bruder Bertram zu Wort.
Meine lieben Freunde und Lehrer haben darauf bestanden, daß ich das ehrwürdige Quartier neben der Unterkunft des zwölften Steindrachen-Lama beziehe. Wenn sie von ihm erzählen, dann wie von einem geschätzten Großvater. Inzwischen verehren sie ihn gar als eine Schutzgottheit. Sie sagen, auch er sei ein Reisender aus einem anderen Teil der Welt gewesen und habe den Menschen als geistiger Vermittler gedient. Ich durfte seine Korrespondenz lesen. So habe ich zu meiner Überraschung erfahren, daß der Kaiser die tibetische Sprache beherrschte.
Bevor Shan das Buch auf den Tisch legte, las er den letzten Eintrag, datiert auf den 24. Mai 1959.
Heute haben wir den Geburtstag der Königin gefeiert. Ich habe auf dem Hof des Klosters Geige gespielt und den Lamas gezeigt, wie man einen Jig tanzt. Wir haben Mehl in die Luft geworfen und einen tüchtigen Schluck Brandy getrunken. Den Göttern der Sieg.
»Lha gyal lo«, sagte eine sanfte Stimme hinter ihm. Elizabeth McDowell hatte über seine Schulter geschaut und mitgelesen.
»Ist das wahr, Miss McDowell?« flüsterte Lokesh. »Wünschen Sie wirklich, daß die Götter siegreich sein mögen?«
Die Frage schien Punji zu verunsichern. Sie wandte den Kopf ab, blickte dann aber langsam zurück zu dem aufgeschlagenen Tagebuch. »Ich habe Briefe gelesen, die meine Urgroßmutter über Bertram geschrieben hat. Als Kind hatte er nur Unfug im Sinn, hat die Zöpfe der Mädchen in Tintenfässer gesteckt und lauter solche Sachen.« Sie zog einen Bleistift aus der Tasche, beugte sich über das Buch und schrieb etwa eine Minute lang. Dann richtete sie sich wieder auf und ging zu dem leeren Bett.
Lieber Onkel Bert , las Shan. Dann folgte auf tibetisch das mani -Mantra und schließlich: Wir werden dafür sorgen, daß die Götter den Sieg davontragen. Alles Gute, Punji .
Shan gesellte sich zu Corbett, der mittlerweile die dritte Truhe geöffnet hatte und zwei Bündel herausnahm. Es waren peche , eines in Seide eingewickelt, das andere in Fell. Am Bodender Truhe lag ein schmuckloses Stück Stoff, das in der Mitte gefaltet und an den Rändern zu einem Beutel vernäht worden war. Als Shan es nahm und auf den Tisch legte, stand plötzlich Punji neben ihm, griff hinein und zog ein Stück gelblich verfärbten Baumwollstoff heraus, in dessen Ecken zwei Handabdrücke zu sehen waren: die Rückseite eines thangka . Erschrocken wies McDowell auf die Kante des Stoffs. Er war ausgefranst, weil man ihn durchgerissen hatte. Wortlos und reglos verfolgte sie, wie Shan den Arm ausstreckte und den Stoff umdrehte. Man sah vier Paar Beine, unter deren Hufen Menschen und Tiere zertrampelt wurden.
»Zhinje!« flüsterte die Britin, schlug eine Hand vor den Mund und erbleichte. Sie hatte den Namen ausgesprochen, der seit fünfzig Jahren nicht mehr genannt worden war. Nach einem Moment verlegenen Schweigens rollte sie das thangka ein. »Die Mönche müssen es nach seinem Tod aus dem Norden hergebracht haben. Hiermit haben wir einen Trumpf im Ärmel.« Sie klang auf einmal sehr aufgeregt und fuhr nun auf englisch fort. »Steigt hinunter zur ersten Ebene. Hinter dem Osttor liegt eine Kapelle mit einem Regal voll alter peche , die teilweise zum Lesen aufgeschlagen sind. Vom Altar hängt eine graue Filzdecke herunter und verdeckt ein Loch. Lu und Khan haben in einem Felsspalt einen Luftzug gespürt und einen kleinen Tunnel gegraben. Ich werde behaupten, ihr wärt ins Labyrinth gelaufen und spurlos verschwunden. Geht. Geht schnell. Ich will nicht, daß noch jemand verletzt wird. Lodi und ich haben das nie gewollt.« Sie schaute kurz zu dem Tagebuch, lächelte Shan zu und ging mit dem wertvollen thangka zu den Rucksäcken, die sie in einer der hinteren Ecken abgestellt hatten.
Im nächsten Augenblick stolperte eine Gestalt zur Tür herein, stürzte und landete krachend neben dem Bett. Es war Liya, und sie hielt sich den Bauch, als habe jemand sie geschlagen. Zwei Männer betraten den Raum. Lu, der Gemäldedieb mit dem
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