Der verlorene Sohn von Tibet
sie, und ihr trauriges Lächeln kehrte zurück. »Er war ein tiefgründiger alter Fuchs, unser Major.«
Als sie das Blatt zurückgeben wollte, schüttelte Shan den Kopf. »Behalten Sie es. Es ist ein Teil von ihm, von Ihrer Familie.«
Im ersten Moment schien es McDowell unangenehm zu sein. Sie fuhr sich mit den Fingern durch das kastanienbraune Haar und wirkte so, als wolle sie das Geschenk am liebsten ablehnen. Dann aber rollte sie das alte Papier langsam wieder zusammen. »Was wollte er damit ausdrücken?« fragte sie. »Was heißt ›Götter erneuern‹?«
»Man hat immer eine Alternative«, sagte Corbett.
Punji stieß einen ihrer theatralischen Seufzer aus. »Ich wußte, daß Sie das sagen würden. Sie sind zu verbohrt. Widmen Sie sich doch den schönen Seiten des Lebens, Sie alle. Erneuern Sie Ihre eigenen Götter. Ich bin mit meinem völlig zufrieden. Ich bringe Kunstwerke zurück, und zwar zu den Leuten, die sie zu schätzen wissen. Der weltweite Markt soll sich frei entfalten.«
Shan rückte dichter an die Wand heran. Der Wind ließ kurz nach, und es kam ihm so vor, als befinde er sich dicht neben dem Unbekannten, der hinter der Mauer sprach. Ein paar kurze Sätze drangen an sein Ohr. Sie ergaben nur wenig Sinn, aber es waren englische Worte. »Natürlich schaffen wir das«, sagte der Mann. »Von jetzt an ist es einfach.«
»Höchstens noch ein paar Tage«, sagte Punji. »Dann sind wir weg.« Sie sah Dawa an. »Ich werde dir ein paar Süßigkeitenschicken. Irgendwo in meinem Gepäck müssen noch welche sein.«
Lu kam am anderen Ende des Hofs wieder zum Vorschein. Aber es konnte nicht seine Stimme gewesen sein, denn laut McDowell sprach er kein Englisch. Als Lu sich neben den großen Kerl mit dem Gewehr hockte und ihm etwas zuflüsterte, zog sich Shans Magen zusammen. Khan runzelte die Stirn und schien etwas einzuwenden. Dann seufzte er und wirkte für einen Moment irgendwie wehmütig. Lu stand auf, klopfte dem anderen wie zur Ermutigung auf die Schulter und ging zu Ko.
Der Mongole rief Punji herbei, öffnete den Rucksack zu seinen Füßen und deutete hinein. Lu nahm das Gewehr und wich nervös zur Seite aus. Als die Britin sich über den Rucksack beugte, hob Khan eine Hand weit über den Kopf.
Shan sah, daß er einen großen gezackten Stein hielt. »Nein!« schrie er.
Als Punji aufblickte, hieb Khan ihr den Stein mit äußerster Wucht auf den Hinterkopf, einmal, zweimal, dreimal, bis ein widerliches Knirschen und das Knacken eines berstenden Knochens ertönte. Die Britin stürzte zu Boden, und Corbett sprang brüllend auf. Lu feuerte ihm einen Schuß vor die Füße, schrie ihn an und stellte sich zwischen Corbett und Punji. Khan wich mit grimmigem Blick zurück. McDowell richtete sich auf Händen und Knien auf. Blut lief in Strömen über ihren Nacken. Sie griff nach hinten und betastete ihr Genick, doch ihre Augen waren trübe und leer. Unter großer Anstrengung kämpfte sie sich auf die Beine, sah sich schwankend um und schien doch niemanden mehr zu erkennen. Der Mongole hob sie wie ein Kind mühelos hoch. Ein Arm lag um ihre Schultern, der andere unter ihren Kniekehlen. Dabei kippte Punjis Kopf genau in Shans Richtung. Ihr Mund öffnete sich weit, und ein verzerrter Laut kam heraus, eine sinnlose Silbe, die vielleicht den Anfang eines Worts darstellte. Dann blickte sie auf ihre Hand, die sich wie von selbst dem peche -Blatt in ihrer Tasche näherte.
Erst als Lu ihn warnte und das Gewehr hob, merkte Shan,daß er einige Schritte vorgestürzt war. Er blieb stehen und streckte eine Hand nach Punji aus. Der Mongole hielt inne und musterte erst die Frau und dann Shan mit traurigem Blick. Lu trieb ihn fluchend zur Eile an. Khan drehte sich um, erreichte mit drei großen Schritten den Rand der Klippe und warf Punji in die Schlucht.
Kapitel Vierzehn
Dawa stieß einen Schrei aus, wie Shan ihn noch nie gehört hatte. Das zitternde, gepeinigte Heulen wirkte wie etwas Lebendiges, durchdrang alle Anwesenden und ließ die alten Mauern erbeben. Es schien, als würden sämtliche Geister des alten gompa sprechen und ihr gemeinsames Entsetzen durch das Mädchen zum Ausdruck bringen. Der Laut toste durch die Luft, schwoll ab und wieder an, als dränge er durch einen Riß in der Atmosphäre. Alle waren einen Moment lang wie gebannt, sogar Khan, der mit trostloser Miene in den Abgrund starrte.
Plötzlich geriet Lu ins Stolpern. Ko hing an seinem Rücken und prügelte auf ihn ein. Als Khan seinem Freund zu Hilfe
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