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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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höheren Lamas des gompa . An der Rückwand hing über einem schlichten Altar ein einzelnes thangka , rechts stand ein niedriges Bett und links eine Truhe. Alle Einrichtungsgegenstände waren aus Duftholz gefertigt. Das Bett verfügte über eine Strohmatratze und eine zerknitterte Filzdecke, die dicht vor der Wand lag. Als Corbett die Truhe öffnete, blickte Shan ihm über die Schulter. Ein schmales Brett teilte den Stauraum in zwei Fächer. Das erste enthielt zwei Roben, zwei graue Untergewänder, Weihrauchstäbchen und mehrere Gefäße mit Kräutern. Auf der anderen Seite lagen vier peche , deren Manuskriptblätter zwischen kunstvoll geschnitzten Holzdeckeln akkurat verschnürt waren. Als Shan mit einem Finger über die zierlichen Vogelschnitzereien des obersten Buches strich, fiel ihm auf, daß Punji zur Mitte des Zimmers blickte. Dort hatte Lokesh sich gebückt und schaute nun voll jäher Qual zum Bett. Darunter stand ein Paar abgetragener Sandalen.
    »Was ist denn?« fragte Corbett, als er Lokesh bemerkte. Dann murmelte er einen leisen Fluch und trat an die Seite des alten Tibeters.
    »Er ist aus dem Bett aufgesprungen und nach draußen gerannt«, sagte Punji traurig.
    Die nachlässig beiseite geworfene Decke in der ansonsten aufgeräumten Kammer sowie die unter dem Bett vergessenen Sandalen erzählten beredt von dem Tag vor mehr als vierzig Jahren. »Sie sind bei Tagesanbruch gekommen«, flüsterte Shan.
    Die Decke lag noch immer so, wie der Lama sie zurückgelassen hatte, als damals der Alarm erklang oder schon die erstenBomben fielen. Und er war ohne Sandalen zur Tür hinausgestürzt.
    Schweigend verließen sie den Raum und öffneten die nächste Holztür. Die Unterkunft sah beinahe genauso aus wie das erste Zimmer, nur daß hier die Bettdecke ordentlich zusammengelegt war. Außerdem stand ein Spannrahmen am Boden, daneben ein Sitzkissen und ein hölzernes Tablett mit Farben und Pinseln. Auf dem Baumwollstoff waren mit Holzkohle die Umrisse eines komplexen thangka vorgezeichnet, und in einer Ecke hatte der Künstler bereits mit dem Auftragen der Farben begonnen.
    Das Bett der nächsten Kammer war wiederum in Unordnung, und neben der Tür lag ein umgeworfenes Tongefäß. Auf einmal merkte Shan, daß Lokesh nicht mehr bei ihnen war. Sie gingen ein Stück zurück und fanden den alten Tibeter in einer nahen Kapelle, wo er mit seiner Lampe dicht vor der Wand stand und die Gemälde begutachtete.
    »Die sind anders als die anderen«, sagte Lokesh, als Shan sich zu ihm gesellte.
    Sie leuchteten den Raum gemeinsam aus. Die Farben und die Patina der Bilder entsprachen den restlichen Kapellen, aber die Motive waren unterschiedlich gestaltet. Anstatt der kleineren Darstellungen früherer Inkarnationen der abgebildeten Person oder Reihen heiliger Symbole fanden sich hier Felsen, Bäume und Wolken im Hintergrund. Auch Berge waren zu sehen, und kleine Vögel flogen über eine weite Landschaft.
    »Das ist nicht tibetisch«, sagte Corbett.
    Doch Lokesh deutete auf den Heiligen im Zentrum, der sich eine Hand ans Ohr hielt. Es war eindeutig Milarepa, der berühmte Asket, und er wurde von anderen tibetischen Heiligen flankiert.
    »Einerseits tibetisch, andererseits nicht«, sagte Shan. »Der Hintergrund entspricht eher dem chinesischen Stil.« Er zeigte auf fünf geschwungene Markierungen in der unteren rechten Ecke. Sie sahen wie Kommas auf einem kleinen Halbkreis aus. »Und was das ist, weiß ich nicht.«
    Corbett fand gleichartige Zeichen auf den anderen beidenBildern der Kammer. »Es wirkt auf mich wie eine Signatur. Aber Sie sagten vorhin, das sei bei Tibetern eher unüblich.«
    »Es kommt so gut wie nie vor, allenfalls auf der Rückseite mancher Gemälde, und dann als Handabdruck oder Wort.«
    »Wer soll das sein?« fragte Yao und wies auf zwei Gestalten in Mönchsgewändern, die links und rechts hinter einem der tibetischen Heiligen standen und deren Gesichter gewissenhaft herausgearbeitet waren. »Das sind keine Tibeter«, stellte er fest. »Und einen von ihnen habe ich irgendwo schon mal gesehen.«
    Shan und Lokesh blieben noch ein Weile in dem Raum und musterten die seltsamen Gemälde. Obwohl sie von den traditionellen tibetischen Konventionen abwichen, hatte der Künstler Geschick bewiesen und einen eigenen Stil von schlichter und ergreifender Schönheit gefunden. Als Shan schließlich auf den Korridor hinaustrat, sah er die anderen vor der nächsten Tür stehen und den Rahmen betrachten. Aus dem Holz ragten mehrere

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