Der verlorene Sohn von Tibet
gekreuzten Kanonenrohren.
McDowell wurde sichtlich von ihren Gefühlen übermannt. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust, ging zum Bild des amban , als wolle sie ihm eine Frage stellen, trat schließlich wieder auf den Gang hinaus und verschwand in der Dunkelheit.
Als Shan ihr folgte, leuchtete Corbett in zehn Metern Entfernung gerade durch den nächsten Eingang. Shan sah, wie die Britin zu ihm ging, kurz in den Raum schaute und hineinlief. Corbett lachte.
Diese Kammer hatte mit den anderen Räumen nur noch die Vertäfelung gemein. Das Bett war mit Holzklötzen zu größerer Höhe aufgebockt worden, und direkt an der Tür standen dreiTruhen. Vor der Wand gegenüber dem Bett ragten bis zur Decke Bücherregale auf. Shan trat näher heran. Der Großteil der Werke waren peche , aber einer der Regalböden stand voller westlicher Bücher. Auf einem zierlichen Arbeitstisch neben dem Bett lagen mehrere Kerzenstummel, Papiere und zwei Fotos in gleichartigen Rahmen. Eines zeigte den Dalai Lama als etwa zehnjährigen Jungen. Das andere war das Bild einer korpulenten Westlerin in einem hochgeschlossenen dunklen Kleid mit Spitzenkragen, die auf einem reichverzierten Stuhl saß. Als Corbett eine der Kerzen anzündete, lachte er abermals auf. Punji kam und nahm das Foto der Frau.
»Das ist die Königin seiner Jugend«, sagte sie und klang dabei auch weiterhin ehrfürchtig. »Königin Victoria.«
Von einem Wandhaken neben dem Bett hing an einem Lederriemen eine oben offene Holzröhre. Darin steckte eine Brille mit dünnem Metallgestell. Über dem Haken konnte man die Umrisse eines ungefähr anderthalb Meter langen Rechtecks erkennen. Dort hatte einst irgend etwas gehangen.
Yao erschien und widmete sich den Truhen. Die erste enthielt Roben und Untergewänder, Weihrauch und häufig gestopfte Wollsocken. Über den Truhen hingen Bilder, wie Shan sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie stammten von geübter Hand und waren wie thangkas auf Stoff gemalt, aber ansonsten hatten sie nur wenig Tibetisches an sich.
Das erste der Gemälde zeigte den Zukünftigen Buddha auf einem prachtvollen weißen Pferd an einem Waldrand. Er war wie ein Krieger mit einer Lanze bewaffnet und sah sich finsteren Gestalten gegenüber. Auf dem nächsten Bild stand ein Mönch hinter der Brustwehr einer englisch wirkenden Burg, und der Wind zerrte an seinem Gewand. Lächelnd blickte Shan noch einmal zu der ersten Darstellung. Das war Buddha als Ivanhoe.
In der Ecke hing das riesige Gemälde einer europäischen Schlachtszene: Soldaten mit lohfarbenen Helmen, die eine Lafette zogen, manche mit Verbänden über blutigen Wunden. Abseits auf einem Hügel standen Offiziere mit sehr ausgeprägten Gesichtern, als seien sie Männern nachempfunden worden,die der Künstler gekannt hatte. Allerdings trugen sämtliche Personen, auch die Offiziere, kastanienbraune Mönchsgewänder.
Corbett gab einen erstaunten Laut von sich und nahm einen langen Gegenstand aus einer der Truhen. Es war eine Geige mit starken Gebrauchsspuren.
Shan setzte sich auf den Hocker und starrte auf ein peche -Blatt, das noch leer war, abgesehen von der Zeichnung einer Blume am Rand. Bruder Bertram hatte es nicht mehr geschafft, seine Arbeit zu vollenden.
Corbett öffnete eine weitere Truhe und holte eine rote Hose mit goldener Paspelierung daraus hervor, wie sie zur Ausgehuniform eines Offiziers gehörte. Shan ging zu den westlichen Büchern. Es gab dort eine Bibel, einige englische Romane, ein Werk über die asiatische Vogelwelt und einen dicken, in Leder gebundenen Band ohne Titelprägung. Shan schlug ihn auf und stellte fest, daß es sich um ein Tagebuch handelte, verfaßt in sauberer, vornehmer Handschrift und in englischer Sprache.
Der erste Eintrag stammte vom 10. Dezember 1903.
Wir haben dem Wort »Chaos« heute eine neue Bedeutung verliehen, indem wir mit viertausend Maultieren und dreihundert Eseltreibern, die zudem vier verschiedene Sprachen sprechen, in 4300 Metern Höhe über einen verschneiten Paß namens Jelap La gezogen sind.
Das bezog sich auf die Himalaja-Überquerung von Colonel Younghusbands Expeditionskorps. Shan blätterte weiter. Während des ersten Jahres waren die Einträge wöchentlich erfolgt, zunächst als knappe, sachliche Schilderungen des Soldatenalltags. Später war dann von tibetischen Kunstwerken und Mönchskünstlern die Rede. Man hatte den Major in Gyantse stationiert, Sitz einer der vertraglich zugesicherten britischen Handelsniederlassungen. Nach einer
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