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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Haken, und daran hingen mindestens zwanzig khatas , zeremonielle Schals. Am Fuß der Tür standen einige verstaubte Bronzefiguren, verschnürte Papierrollen mit Gebeten und eingeschrumpfte braune Klumpen, bei denen es sich ursprünglich um Butteropfer gehandelt haben mochte.
    »Es ist so eine Art Schrein«, sagte Punji. »Diese Dinge wurden vor langer Zeit hier plaziert, noch vor der Bombardierung.«
    Im Licht der Taschenlampen schien der Raum zunächst den bisherigen Unterkünften zu ähneln. Es gab ein einfaches Holzbett, einen kleinen niedrigen Schreibtisch samt Stuhl, ein Regal mit Manuskripten, eine Holztruhe und einen Altar unter einem thangka . Aber die zusammengerollte Strohmatratze war mit einem Streifen Seide umwickelt, und auf der Truhe stand die kleine steinerne Statue eines Drachen.
    Niemand schien gewillt zu sein, über die Opfergaben am Boden hinwegzusteigen. Letztendlich seufzte Yao und betrat die Kammer. Während die anderen warteten, ging er zum Bett, legte kurz eine Hand auf die Matratze, hielt inne und schaute zu dem Drachen. Dann drehte er sich um und wollte die anderen Wände ausleuchten, doch er zuckte jäh zusammen und ließ die Taschenlampe fallen. Sein Blick war auf die Wand rund umden Eingang gerichtet, die den Augen der anderen verborgen blieb. Er machte einen winzigen Schritt, schien zu taumeln und fiel auf ein Knie nieder. Seine Lampe blieb achtlos liegen, und er starrte weiterhin die Wand an.
    Shan und die anderen eilten herbei und drehten sich um. Einen Moment lang glaubte auch Shan, seine Knie würden nachgeben.
    »Ai yi!« rief Lokesh.
    »Er ist es!« keuchte Punji.
    »Wer denn?« fragte Corbett verwirrt und betrachtete die beiden prächtigen chinesischen Porträts, die an der Wand hingen.
    Das rechte Gemälde zeigte einen eleganten Mann mittleren Alters, der eine Fellmütze trug und auf einem Thron saß. Shan erkannte ihn sofort. Es war Kaiser Qian Long.
    »Er hat aus Peking ein Bild seines Onkels mitgebracht«, flüsterte Punji.
    »Und eines von sich selbst«, sagte Shan. Auf der anderen Seite der Tür hing ein Gemälde der gleichen Größe, mit einem identischen Saum aus Seidenbrokat. Der Mann dort saß auf einer Bank und trug ebenfalls eine Fellmütze. Sein freundliches und intelligentes Gesicht glich einer jüngeren Ausgabe des Kaisers.
    »Die beiden unbekannten Heiligen«, sagte Lokesh. Shan begriff schlagartig, wieso einer der Männer auf dem Wandgemälde vertraut gewirkt hatte.
    »Es war der Kaiser«, sagte Punji ehrfürchtig, »gemalt als Lama. Und der andere war sein Neffe.«
    »Aber nicht mehr als amban «, fügte Shan hinzu. »Zu diesem Zeitpunkt war er bereits der andere geworden.«
    »Der andere?« fragte die Britin.
    »Der wiedergeborene Abt.« Shan deutete auf die Drachenstatue. »Der Steindrachen-Lama.«
    »Tot, auf Anordnung des Steindrachen-Lama«, stieß Punji überrascht hervor und schaute zu Lokesh und Shan. »Der Lama Kwan Li hat den Tod des amban Kwan Li befohlen.« Die Schriftzeile auf den Plakaten war eine Art Scherz gewesen, eine spöttische Anmerkung, und sie stammte von Leuten aus dem Gefolge des Lama.
    »Er hat seine Arbeit signiert«, flüsterte Lokesh, noch immer voller Erstaunen. Sein Finger ruhte auf einem der ausgestreckten Beine des steinernen Drachen.
    McDowell, die soeben einen Kasten neben dem Bett geöffnet hatte, blickte von den darin ordentlich einsortierten Pinseln und vertrockneten Farben auf. »Wie meinen Sie das?«
    »Die Gemälde mit den Markierungen waren von ihm«, sagte Shan und registrierte beiläufig, daß sie alle nur flüsterten. »Die fünf gekrümmten Striche. Der Fußabdruck des kaiserlichen Drachen. Fünf Klauen.«
    Im Schatten neben dem Altar flammte ein Streichholz auf. Lokesh entzündete ein Weihrauchstäbchen und steckte es in einen steinernen Halter, der auf einem niedrigen Tisch stand. Daneben entdeckte Shan nun ein großes Holztablett mit einer merkwürdigen Ansammlung von Gegenständen: mehrere kleine tsa-tsas , die traditionellen Tontafeln mit Götterbildern, bemalt in leuchtenden Farben; ungefähr zwanzig Papierrollen, fest verschnürt mit Seidenbändern; etwas, das wie ein Knochensplitter aussah; und ein kleines, rundes Stück Messing, sanft gewölbt und mit kurzem Schaft auf der Rückseite. Das alles wirkte wie ein weiterer provisorischer Schrein.
    Punji, die hinter Shan stand, sog erschrocken den Atem ein. Dann stieß sie das Messingobjekt mit einem Finger an. Es war ein Knopf, ein verzierter Uniformknopf mit zwei

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