Der verlorene Sohn von Tibet
Proviantrucksack ist Verbandzeug«, sagte Corbett.
Liya griff in den Rucksack und erstarrte. Dann hob sie verwirrt den Kopf und brachte den langen weißen Stoffbeutel zum Vorschein, den sie bereits aus Major McDowells Quartier kannten.
»Das thangka !« rief Lokesh.
Liya zog das alte Gemälde heraus. Punji hatte Lu ein letztes Schnippchen geschlagen und den Beutel in Shans Rucksack verstaut anstatt in ihrem eigenen.
»Damit haben wir eine Chance, die Mistkerle zu erwischen«, sagte Corbett. In seiner Stimme schwang etwas Neues mit: der Wunsch nach Vergeltung. »Ming und diesen Croft.«
Während Lokesh das ausgefranste, etwa fünfzig Zentimeter breite Stück Stoff am Boden auslegte, holte Yao das zusammengefaltete Abbild der oberen Hälfte der Todesgottheit hervor, das sie in Tans Büro ausgedruckt hatten. Er hielt es an die Rißkante. Das Rätsel des amban ließ sich angeblich lösen, indem man beide Hälften aneinanderfügte. Aber die Hoffnung erfüllte sich nicht.
Das zusammengesetzte Bild schien genauso auszusehen wie das thangka , das in der Trauerhütte des ragyapa -Dorfes gehangen hatte. Lokesh kniete sich hin und beugte sich dicht über das Gemälde. Die anderen hockten sich neben ihn und hielten nach Farbmustern oder Anomalien Ausschau, sowohl bei der Figur des großen Stiergottes als auch bei den kleineren Gottheiten, die ihn umgaben. Sie waren überzeugt, daß die gesuchte Botschaft auf gleiche Weise in dem Gemälde versteckt sein mußte wie die Hinweise, die sie erst kürzlich im Tempel entschlüsselt hatten. Lokesh murmelte ein Mantra, als wolle er die Götter bitten, sich ihnen zu offenbaren.
Doch sie fanden nichts, nur fünf kleine, klauenähnliche Markierungen am unteren Rand des zerrissenen Stoffs. Fünf weitere waren an der Oberkante des Ausdrucks sichtbar. Der amban hatte beide Hälften mit seinem Zeichen versehen.
»Sprich zu uns«, stöhnte Yao und vollführte eine anfeuernde Geste in Lokeshs Richtung, als wolle er die Wirkung des Mantras verstärken.
Schließlich stand Corbett auf und gab zu bedenken, daß Khan und Lu vielleicht noch eine weitere Schußwaffe in den Höhlen versteckt hatten. Als Shan das thangka zusammenrollte, fiel sein Blick auf die beiden Handabdrücke auf der Rückseite. Dann teilte er den anderen mit, sie könnten bis Einbruch der Dunkelheit Fionas Haus erreichen.
Sie machten sich sofort auf den Weg und eilten im Laufschritt davon. Dawa wurde zunächst von Corbett auf dem Rücken getragen, dann von Shan, dann von Liya. Als sie Zhoka im strahlenden Sonnenschein hinter sich ließen, war es später Nachmittag, und ein warmer Wind strich über ihre Gesichter. Die düstere Stimmung ließ ein wenig nach. Sie sprachen kaum ein Wort, auch dann nicht, wenn sie an einer Quelle pausierten, um etwas zu trinken, aber Shan merkte, daß die Blicke seiner Gefährten sich veränderten. Es lag keine Angst mehr darin, sondern eine ruhige, gelöste Entschlossenheit, wie Shan sie häufig bei Tibetern gesehen hatte, die sich schier unüberwindlichen Schwierigkeiten stellen mußten.
Nur Ko schien nicht in der Lage zu sein, den Schmerz abzuschütteln.
»Danke für deine Hilfe«, sagte Shan, als sie an einem Bach knieten. »Du hast uns gerettet.«
»Eine Frau wie Punji hatte ich noch nie getroffen«, sagte Ko verunsichert. »Ich meine … wir haben uns gar nicht gekannt. Aber sie hat in den Tunneln mit mir herumgealbert. Daß ich ein Häftling bin, war ihr egal. Ich sehe ständig ihre Augen vor mir. Sie war so wunderschön. Für ein paar Minuten waren sie und ich Partner und wollten in den Westen fliehen. Alles andere spielte plötzlich keine Rolle mehr …« Er sah Shan an und schien sich auf einmal zu erinnern, mit wem er da sprach. »Ach, vergiß es«, sagte er barsch, wirkte aber nicht wirklich verärgert. Nach einem Moment stand er einfach auf und bot an, Dawa auf seinem Rücken zu tragen.
»Falls wir sie nicht für ihre bisherigen Verbrechen festnageln können, müssen wir sie eben auf frischer Tat ertappen«, sagte Corbett und schaute Ko und dem Mädchen hinterher. »Dann werden sie schon reden und uns das Versteck ihrer Beute verraten.«
Yao nickte ernst. »Der Schatz des amban gehört der chinesischen Regierung. Aber um ihn zu finden, müssen wir erst dieses alte Gemälde enträtseln.«
»Der Schlüssel liegt in den letzten Briefen verborgen, die Qian Long und sein Neffe einander geschickt haben«, sagteShan. »Ming kennt sie noch nicht. Der amban schrieb, er werde den Rest
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