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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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des Todes erläutern. Ich dachte, es ginge um eine buddhistische Lehre.«
    »Er meinte das thangka !« rief Liya. »Er meinte den Rest der Todesgottheit, die andere Hälfte des zerrissenen Gemäldes. Er wollte dem Kaiser erklären, wie das Bild gedeutet werden muß, damit es keine Mißverständnisse gibt!«
    »Wie die Sutras«, sagte Shan, der sich noch gut an den genauen Wortlaut erinnern konnte. »Kwan Li schrieb, wie die Sutras würde er später noch den Rest des Todes erläutern. Er meinte, auf tibetisch. Er wollte einen Brief auf tibetisch schreiben, um das Geheimnis zu erklären.«
    »Aber die Briefe sind immer noch in Peking«, sagte Corbett. »Wir müssen dorthin.«
    »Ich habe niemanden in Peking«, erklärte Yao stirnrunzelnd. »Niemanden, der Tibetisch lesen, und niemanden, dem ich trauen kann.« Er sah Shan ruhig an. »Wenn Sie den Tibetern helfen wollen, müssen Sie uns begleiten.«

DRITTER TEIL

Kapitel Fünfzehn
    Shan sank in einen finsteren grauen Nebel, der manchmal wie Schlaf, mitunter aber auch wie der Beginn einer tiefen Meditation war. Er fand keine Ruhe. Wohin sein Geist sich auch wandte, stets geriet er in etwas, das den dunklen Wolken glich, die unter ihnen vorüberzogen. Insgeheim verfluchte er Yao und Corbett dafür, daß sie ihn an Bord des Flugzeugs gebracht hatten, weit weg von Surya, Gendun und den anderen Tibetern, die so dringend Hilfe benötigten. Und ein Teil von ihm haßte sich selbst, weil es ihm nicht gelang, einen Zugang zu Ko zu finden und die harte Schale zu durchbrechen, die der Junge sich zugelegt hatte. Shan fragte sich erschrocken, ob er Tibet oder seinen Sohn wohl je wiedersehen würde.
    Sobald Yao in Peking keine Verwendung mehr für ihn hatte, bestand für den Inspektor eigentlich kein Anlaß, ihn zurückzubringen. Außer, um ihn loszuwerden. In Peking würde Shan ganz in der Nähe derjenigen sein, die ihn ursprünglich in den Gulag geschickt hatten. Einige von ihnen waren inzwischen an Altersschwäche gestorben, aber nicht alle.
    Auch wenn es Shan bisweilen gelang, die Zweifel beiseite zu schieben und etwas zu schlafen, vermochte er seine Augen nicht lange geschlossen zu halten, denn er sah immer wieder die gleichen Bilder vor sich. Punjis verwirrten, kindlichen Gesichtsausdruck, nachdem die Schläge ihr Gehirn zerstört hatten und der Mörder sie auf beiden Armen zum Abgrund trug. Surya, der Töpfe voller Exkremente schleppte und von seiner Zeit als Lama sprach, als würde es um eine andere Person gehen. Gendun, der in Zhokas dunklem Labyrinth Verbindung zu den Göttern aufnahm. Manchmal schimmerte wie aus einem trüben Korridor noch ein weiteres Bild durch den Nebel: Ein heiterer Chinese in Drachenrobe und ein leutseliger britischerOffizier saßen an einem karierten Brett und spielten Dame, aber ihre Hände waren vollständig skelettiert.
    Letztendlich mußte ihn doch noch der Schlaf übermannt haben, denn es gab unvermittelt einen Ruck, und sie waren gelandet. Die Maschine rollte auf ein flaches graues Gebäude unter einem tiefen braunen Himmel zu, der typisch für die staubbefrachtete Dunstglocke des Pekinger Sommers war.
    Yao bedeutete Shan, er solle sitzen bleiben, und so rührten sie sich nicht vom Fleck, bis die anderen Passagiere ausgestiegen waren. Sogar Corbett nickte ihnen nur kurz zu und verschwand. Schließlich tauchten zwei junge Männer in den grauen Uniformen der Öffentlichen Sicherheit auf und begrüßten Yao ehrerbietig. An ihren Gürteln hingen Pistolen, und sie ließen Shan argwöhnisch nicht aus den Augen, während sie ihn und den Inspektor durch eine Tür in der Seite der Fluggastbrücke zu einer schwarzen Limousine begleiteten, die neben dem Flugzeug wartete. Yao stellte Shan den Männern nicht vor und sprach auch sonst kein Wort, sondern schaute auf der Fahrt in die Stadt lediglich zum Fenster hinaus.
    Pekings Skyline sah nicht mehr so aus wie in Shans Erinnerung, und auch sonst hatte die Stadt sich verändert. In allen Richtungen erstreckten sich neue Schnellstraßen, voll mit Zehntausenden neuer Automobile. Ungewohnte Gebäude ragten am Wegesrand auf, Bauten im westlichen Stil mit nichtssagenden Fassaden, teilweise mit den Namen ausländischer Firmen versehen. Reklametafeln wuchsen wie Unkraut überall aus dem Boden.
    Manches hatte sich nicht verändert. Noch immer strömten wahre Menschenmassen über die Gehwege und bis auf die Fahrbahnen, ergossen sich in die Stationseingänge der U-Bahn und umspülten die Straßenverkäufer. Vertraute

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