Der verlorene Sohn von Tibet
erzählt?«
»Nein, er war auf Reisen gewesen und hatte seine Kinder noch gar nicht gesehen. Jemand hat ihm meinen Bericht zugespielt. Ich war mitten auf dem Rasen, als er zu mir kam und sagte, er habe den Ofen ausgeschaltet. Dann ging er wieder weg und ließ mich keine weiteren Fragen stellen. Er sagte, die Versicherungsleute hätten bereits alles, was sie brauchten, und das FBI müsse sich nicht weiter bemühen. Er hatte keinerlei Probleme mit uns, bis ich das Thema Abigail zur Sprache gebracht habe.«
Corbett bog in einen Schotterweg ein und fuhr auf einenParkplatz, von dem aus man den Meeresarm überblicken konnte. Im starken Wind hatten die Wellen Schaumkronen. Der FBI-Agent wies auf eine schmale Eisenbrücke, die in dreißig Metern Höhe eine kleine Bucht überquerte, und stieg schweigend aus. Shan folgte ihm und klappte den Kragen seiner Jacke hoch.
»Abigail wird unerwartet Zeugin des Verbrechens und dabei entdeckt. Wahrscheinlich erkennt sie gar nicht, was dort geschieht, und glaubt, Dolan würde lediglich eine Lieferung bekommen oder etwas umräumen. Er bietet ihr an, sie nach Hause zu fahren, denn es ist schon ziemlich spät. Ihr Fahrrad legen sie in den Kofferraum. An der Brücke hält er an. Es gibt hier keine Häuser und somit auch keine möglichen Augenzeugen. Vielleicht sagt er, er wolle den Mondschein auf dem Wasser bewundern. Keine Ahnung. Sie gehen bis zum Geländer, und er wirft sie hinüber. Sie ist klein und wiegt nicht viel. Dann fährt er zu einer acht Kilometer entfernten Brücke in der Nähe von Abigails Wohnung und versenkt dort das Fahrrad im Wasser, wo es zwei Wochen später von Tauchern gefunden wird. Tja, nur leider war zu dem Zeitpunkt Ebbe, und hier unter der Brücke gab es kein Wasser, bloß Felsen. Abigail hat den Sturz überlebt, aber ihr Rückgrat war gebrochen.« Corbett mußte um seine Fassung ringen. »Sie ist ertrunken.«
Shan starrte auf das dunkle, aufgewühlte Wasser hinunter und empfand jähes Entsetzen. Das Mädchen war auf den Steinen gelandet, hatte hilflos und mit zerschmetterten Gliedern in der Nacht dagelegen und sich nicht bewegen können, als die Flut langsam stieg und sie hinaus in die Bucht trug.
Sie sprachen beide kein Wort mehr, auch nicht, als sie wieder in Corbetts Haus waren. Der Amerikaner stellte ein paar Lebensmittel auf den Tisch und ging nach oben. An der Brücke hatte er absolut überzeugt geklungen, aber sie wußten beide, daß es für die Ermordung des Mädchens keine Beweise gab. Es war tatsächlich so, als habe Abigail an jenem schrecklichen Tag in der Bucht zu ihm gesprochen.
Shan war auf einmal sehr hungrig und nahm die Vorräte etwas genauer in Augenschein. Eine Gurke, ein Kopfsalat, einbraunes Brot, eine Schachtel Reis, eine Banane, eine Tomate, ein Glas Senf und mehrere Konserven mit Gemüse, das er nicht kannte. Er schnitt die Gurke in lange Streifen, trug sie samt der Banane zu dem weichen Sessel in der Nähe der Haustür, schaltete alle Lampen aus, setzte sich und aß. Dann lehnte er sich in die weichen Polster zurück und lauschte mit geschlossenen Augen den Geräuschen von draußen. Als er die Augen wieder öffnete, war es stockfinster, und jemand hatte eine Decke über ihm ausgebreitet. Es waren mehrere Stunden vergangen; die Uhr zeigte fast Mitternacht. Shan wollte schon zur Treppe gehen, hielt dann aber inne und trat noch einmal hinaus auf die hintere Veranda. Der Regen auf den Blättern war wie ein Flüstern. In einem Eimer neben der Tür zirpte plötzlich eine Grille, und aus irgendeinem Grund schien dieser Laut die Traurigkeit aus Shans Herz zu vertreiben. Zum erstenmal seit Jahren fiel ihm ein, wie er mit seinem Vater bei leichtem Regen durch einen Bambushain gegangen war und sein Vater das Zirpen einer Grille nachgeahmt hatte, um Vögel anzulocken. Nun verharrte Shan reglos eine ganze Weile, weil er fürchtete, jede Bewegung könnte seinen Vater wieder verscheuchen.
Schließlich kehrte er in die Küche zurück und fing an, etwas zu suchen. Während er die Schubladen und Schranktüren öffnete, sah er auf dem Küchentresen einen kleinen weißen Kasten mit Stromkabel stehen. Der Aufkleber darauf besagte, es handle sich um einen Dosenöffner. Shan fragte sich, wie dieses Ding wohl funktionierte und wozu es überhaupt notwendig war.
Wenig später fand er ein weißes Stück Papier, einen dicken schwarzen Filzstift, Streichhölzer und den Stummel einer Wachskerze. Er nahm alles mit nach draußen, setzte sich im Schutz des Daches
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