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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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direkt vor die Wand, zündete die Kerze an und schrieb in kühn geschwungenen Ideogrammen eine Botschaft auf den Zettel.
    In einem Eimer hat eine Grille gesungen und meinen Kummer überwunden. Ich bin voller Ehrfurcht. Danke, Vater, daß du mich gelehrt hast, wie man zuhört. Er faltete das Blatt zusammen, schrieb den Namen seines Vaters darauf, fügte in der oberenEcke das englische Wort »Seattle« hinzu, entzündete das Papier an der Kerze und warf es in ein leeres Tongefäß. Als die Asche in der heißen Luft emporstieg und in die Nacht hinaustrieb, schaute er ihr hinterher, seiner Postkarte aus Amerika.
    Sehr viel später stieg er die Stufen hinauf und wollte gerade sein Zimmer betreten, als er sah, daß die Tür am Ende des Flurs, noch hinter Corbetts Schlafzimmer, einen Spaltbreit offenstand. Shan ignorierte sein jähes Schuldgefühl, ging hin und stieß die Tür auf. Es roch ungewohnt. Er schaltete das Licht ein. In der Mitte des Raums stand eine Staffelei mit einem unvollendeten Aquarell. Daneben lag auf einem Tisch eine Skizze des geplanten Bildes. Es zeigte ein windumtostes Steingebäude auf einem Berg. Von einer Leine flatterten Gebetsfahnen. Corbett hatte gemalt.

Kapitel Siebzehn
    Shan saß auf den Stufen vor dem Haus, betrachtete die Blumen und beobachtete manche der Nachbarn, als er hinter sich Corbett nach unten und in die Küche gehen hörte. Er harrte hier schon seit Tagesanbruch aus, weil er abermals keinen Schlaf gefunden hatte. Vieles von dem, was er sah, kam ihm merkwürdig vor. Ein weißer Lastwagen mit gewölbtem Laderaum rollte langsam durch den Dunst, während Männer in Overalls Plastiktonnen voller Abfall in ihn entleerten. Dann rannten mehrere Leute, die Mützen und sehr kleine Hosen trugen, durch den Regen. Shan konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wohin sie so eilig wollten und was sie dort wohl tun würden. Ein Transporter mit einer riesigen, rätselhaften Aufschrift fuhr vorbei: FedEx – garantiert in 24 h .
    In Gedanken reiste Shan zu einem anderen Morgen in vielen tausend Kilometern Entfernung, wo Surya und seine neuen Gefährten menschliche Exkremente einsammelten, wo die Einsiedler von Yerpa in einer Kammer voller Butterlampen Mantras rezitierten und wo Ko vermutlich in Handschellen schlief und in seinen Alpträumen Männer mit Skeletthänden sah. Er hörte, daß Corbett am Telefon sprach, dabei mehrmals Baileys Namen nannte und gelegentlich sehr aufgeregt wirkte. Shan ging leise hinein und setzte sich wieder auf den großen Sessel. Corbett, noch immer am Telefon, reichte ihm eine Banane.
    Fünf Minuten später legte Corbett auf, ging zur Tür und winkte Shan, ihm zu folgen. Sie stiegen in den Wagen und fuhren los, überquerten eine Brücke und bogen auf eine enge Serpentinenstraße ein, die durch einen Wald aus mächtigen immergrünen Bäumen verlief.
    »Bailey sagt, die Versicherung wird Dolan demnächst einen Scheck ausstellen«, berichtete Corbett mit matter Stimme.»Seien Sie nett zu ihm. Er ist die ganze Nacht aufgeblieben«, warnte er, als sie an einer Kiesauffahrt hielten.
    Offenbar wurde das alte Haus gerade renoviert. Eine der Holzwände hatte man erst kürzlich frisch gestrichen, und eine andere war mit schwarzer Folie abgedeckt. Bailey befand sich in einem Nebengebäude, einem ehemaligen Schuppen, den man zu einer kleinen Garage umgebaut hatte. Das Tor stand offen.
    Auf einem langen Tisch in der Mitte der Garage lagen ein vom Wasser ruiniertes Taschenbuch, schmutzige Kleidungsstücke, mehrere gefaltete Zettel, eine zerrissene Halskette, ein kleines Paar Schuhe und ein Fahrrad, dessen Rahmen und Vorderrad verbogen waren. Am Ende des Tisches standen kleine Flaschen mit Chemikalien neben Vergrößerungsgläsern und einigen feinen Pinseln.
    »Nichts, rein gar nichts«, sagte Bailey, ohne sie zu begrüßen. »Ich weiß schon nicht mehr, wie oft ich jedes einzelne Teil untersucht habe. Bevor es gestern abend dunkel wurde, bin ich unter der ersten Brücke herumgeklettert und habe gehofft, irgendeinen Hinweis auf Abigail zu finden. Nichts. Ebbe und Flut haben saubere Arbeit geleistet. Immerhin ist es einige Wochen her.«
    Shan trat näher an den Tisch heran. An einem der Schuhe klebte ein vertrockneter Algenrest.
    »Laut Polizeibericht ist sie in viel zu hohem Tempo auf die Brücke gefahren, auf einer nassen Stelle ausgerutscht, gegen das niedrige Geländer geprallt und samt Fahrrad in die Tiefe gestürzt«, erklärte Bailey.
    Corbett nahm die silberne Halskette,

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