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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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an der ein kleines Medaillon hing. Es war geöffnet, und man konnte das Foto einer alten Frau erkennen. Er streckte es Shan entgegen. »Aber das hier wurde im Seetang auf der anderen Seite der Brücke gefunden. Der Bericht hat keine Erklärung dafür. Weil es ihr nämlich abgerissen wurde, bevor man sie von der ersten Brücke geworfen hat. Vielleicht gab es einen kurzen Kampf. Dolan hat es auf der Rückseite der zweiten Brücke ins Wasser geworfen, nachdem er zuvor das Fahrrad entsorgt hatte.«
    Shan ließ den Blick über den Tisch und dann durch die Garageschweifen. »Hat die Polizei ihre Ermittlungen beendet?« fragte er. Die Beweisstücke hätten sich in einem offiziellen Labor befinden müssen.
    »Der Fall gilt als abgeschlossen«, sagte Corbett. »Ein Unfall. Fertig und aus. Das alles hier soll an ihre Eltern geschickt werden.«
    »Wir haben gestern sämtliche kommerziellen Lagerhäuser der Region überprüft, aber weder Dolan noch McDowell oder Lodi haben irgendwo einen Raum gemietet. Nichts. Dann haben wir noch einmal alle Antiquitätenhändler angerufen. Im gesamten Nordwesten ist kein einziges von Dolans Exponaten aufgetaucht. Es ist eine Sackgasse, Boß«, sagte Bailey. »Und ich bin total fertig.« Er reichte Corbett ein Stück Papier mit einer Zeichnung darauf und ging zum Haus. Corbett winkte ihm hinterher.
    Sie fuhren weiter und gelangten nach zehn Minuten an einen Friedhof. Corbett zog Baileys Zeichnung zu Rate, und dann gingen sie an den Reihen nasser rechteckiger Steine und tröpfelnder Koniferen entlang.
    »Bleiben die etwa alle hier liegen?« fragte Shan. Manche der Gräber sahen sehr alt aus.
    Corbett warf ihm einen müden, verwirrten Blick zu, und Shan begriff, daß er die Frage anscheinend für einen schlechten Scherz hielt. In den chinesischen Städten blieb jedoch niemand in seinem Grab, außer er war sehr reich oder berühmt. Falls die Familie sich überhaupt eine Beerdigung leisten konnte, galt die entsprechende Stelle nur für vier oder fünf Jahre als gepachtet, damit die Hinterbliebenen einen Ort zum Trauern hatten. Dann wurden die Leichen exhumiert und verbrannt, um Platz für die neuen Toten zu schaffen.
    Sie benötigten fast eine Viertelstunde, um das Grab zu finden, einen überraschend großen Stein, dessen Ränder mit einem extravaganten Muster aus Vögeln und Blumen verziert waren. In der Mitte stand Abigail Morgans Name in großen verschnörkelten Buchstaben. »Dolan hat darauf bestanden, die Kosten zu übernehmen«, murmelte Corbett, zog etwas aus der Tasche und legte es auf den Stein.
    Shan starrte es ungläubig an, musterte Corbetts ernste Miene und trat näher. Es war eine tsa-tsa , eine Tontafel mit dem Abbild der Schutzgöttin Tara, wie sie auch in der Trauerhütte unter Lodis Bildnis gelegen hatte.
    Während Corbett traurig und zornig verharrte, sah Shan sich um und sammelte ein paar Steine ein. Er hatte am Fuß des Grabs bereits einen kleinen Hügel aufgehäuft, als der Amerikaner endlich Notiz davon nahm und anfing, ihm zu helfen. Nachdem sie einen fast sechzig Zentimeter hohen Steinhaufen errichtet hatten, fragte Shan, ob Corbett ein sauberes Stofftaschentuch und einen Kugelschreiber bei sich trage. Der Amerikaner nickte und gab ihm beides. Shan schrieb zehnmal das mani -Mantra auf das Tuch und verankerte es unter dem obersten Stein des Hügels. »Jedesmal wenn es im Wind flattert, schickt es die Gebete zum Himmel«, erklärte er.
    Corbett schien etwas erwidern zu wollen, aber sein Mobiltelefon klingelte. Er zögerte und holte es dann widerwillig aus der Tasche.
    »Corbett«, meldete er sich barsch. »Jawohl, Sir.«
    Er hörte eine Weile wortlos zu, doch seine Augen funkelten. »Ich habe mich nicht weiter um das Mädchen gekümmert«, sagte er dann. »Sie haben angeordnet, die Akte zu schließen, wenn ich mich recht entsinne.« Dann lauschte er erneut. »Alles klar«, sagte er. »Ein neuer Fall. Kunstdiebstahl in Boise. Wir machen uns gleich an die Arbeit.« Er steckte das Telefon wieder ein. »Sind Sie soweit, Inspektor Shan?« fragte er mit gefährlichem Grinsen.
    Es gab am vorderen Tor keinen Wachposten, sondern lediglich eine gemauerte Säule, die eine Videokamera und eine Gegensprechanlage enthielt. Shan und Corbett hatten fünfzig Meter vor der Einfahrt die Plätze getauscht, und so saß nun Shan am Steuer und sprach leise in den kleinen Kasten, während der Amerikaner sein Gesicht von der Kamera abwandte. Sie warteten eine Minute, dann noch eine. Plötzlich setzte

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