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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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das schwere Eisentor sich quietschend in Bewegung und glitt zur Seite.
    Falls Shan nicht schon sein Foto gesehen hätte, wäre er nievon selbst darauf gekommen, welcher der Männer, die an dem überdimensionalen Fenster standen, ein Milliardär sein könnte. Dolan war von kleiner, eigenartig proportionierter Statur. Sein gebräuntes, drahtiges Gesicht schien nicht zu dem untersetzten Körper zu passen. Er war jünger, als Shan erwartet hatte, und sein kurzes braunes Haar wies nur wenige graue Strähnen auf. Shan hatte außerdem damit gerechnet, daß er ungeduldig oder sogar gereizt reagieren würde, doch statt dessen schickte Dolan die anderen Männer weg, ließ sich behaglich auf einem der Ledersessel nieder und lächelte freundlich. »Sie ahnen ja nicht, wie überrascht ich bin, daß mein alter Freund Ming mir ein Geschenk schickt«, sagte er und zog beide Augenbrauen hoch. »Wie reizend. Was macht der gute Direktor?«
    »Er ist sehr beschäftigt«, sagte Corbett.
    Dolans Augen waren grau und zudem in einer dunkleren Farbe gesprenkelt, wie schmutziges Eis. Sie betrachteten Corbett und richteten sich dann auf Shan. »Sie müssen der chinesische Polizist sein. Nei hou tongzhi .« Das war Mandarin. Guten Tag, Genosse.
    Shan entgegnete nichts, sondern griff in die Papiertüte, brachte eine kleine braune Schachtel zum Vorschein und legte sie vor Dolan auf den Couchtisch. Reglos musterte Dolan sie einen Moment lang und schaute dann wieder Corbett an. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit Ihren Vorgesetzten zu sprechen, Agent Corbett. Aber das kommt noch. Ich habe Ihnen ausdrücklich gesagt, das FBI werde hier nicht mehr benötigt.«
    Corbett hielt dem Blick mühelos stand. »Ich bin in einer anderen Angelegenheit hier. Man hat mich angewiesen, unseren chinesischen Besucher zu begleiten. Ach, mein Boß hat übrigens gesagt, er wolle sich einen gewissen Adrian Croft vornehmen. Kennen Sie ihn?«
    Als Dolan verächtlich die Lippen schürzte, fühlte Shan sich auf seltsame Weise an Oberst Tan erinnert. »Es gibt keinen Mr. Croft, Corbett. Aber natürlich wissen Sie das längst. Ein zweckdienliches Arrangement. Meine Sicherheitsleute haben mir dazu geraten. Es ist nichts Illegales daran, gewisse Vorkehrungen zu treffen.« Er beugte sich vor und nahm mit beidenHänden die Schachtel. »Sie ist an Adrian Croft adressiert«, stellte er fest und wirkte dabei zum erstenmal leicht verärgert.
    »Direktor Ming wollte wohl gewisse Vorkehrungen treffen«, log Corbett.
    Dolan öffnete die Schachtel, ohne Shan und Corbett aus den Augen zu lassen. Er war eindeutig mißtrauisch, aber genauso eindeutig nicht in der Lage, seine Neugier im Zaum zu halten, also hob er den Deckel ab, schob das Packmaterial beiseite – und hielt stirnrunzelnd inne. Eine Sekunde lang war er sichtlich verblüfft. Dann nahm er die herrliche kleine Figur: ein sechshundert Jahre alter Heiliger, in einer Hand ein Schwert, in der anderen eine Lotusblume, dessen originale Vorlage von Lu und Khan zerstört worden war. Dolan seufzte und musterte schweigend seine Besucher.
    »Die Versicherung wird sich bestimmt freuen«, sagte Corbett.
    »Ich weiß nicht, wovon Sie da reden«, gab Dolan schroff zurück. »Falls Sie die Liste der gestohlenen Gegenstände gelesen hätten, würden Sie wissen, daß diese Statue dort nicht aufgeführt wird.«
    Corbett nahm ein kleines Kissen, das mit Blumenstickereien verziert war, und betrachtete es. »Ich untersuche nun schon seit vielen Jahren Kunstdiebstähle und habe gelernt, absolut alles zu überprüfen. Leute mit großen Sammlungen vergessen manchmal etwas oder verfügen nur über lückenhafte Unterlagen. Ihre Frau hat sich letztes Jahr mit Ihrer Sammlung ablichten lassen, Mr. Dolan. Uns liegen Zeitschriftenfotos vor, auf denen diese Figur in einer Ihrer Vitrinen steht. Das gleiche gilt für ein rundes Dutzend weiterer Exponate, die ebenfalls nicht in Ihrer Verlustmeldung auftauchen. Die Stücke haben Museumsqualität.«
    »Ich habe sie verkauft.«
    »Gut. Dann gibt es doch sicherlich Dokumente der Transaktion. Die Versicherungsgesellschaft wird danach fragen. Wir haben ihr nämlich zur Information die Fotos geschickt.«
    Als Dolans Augen aufloderten, sah Shan darin nicht nur Wut, sondern zugleich etwas Wildes, fast Grausames. »Ich macheSie fertig, Corbett. Sie verstoßen gegen Ihre ausdrücklichen Befehle.«
    »Mir liegt ferner der Katalog einer Museumsausstellung vor, der im gleichen Monat veröffentlicht wurde wie bei uns hier die

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