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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Tibeter ihn am Arm, als wolle er den Freund davon abhalten, sich noch dichter an den Turm heranzuwagen.
    Shan sah diesen Ort zum erstenmal aus der Nähe und erkannte nun, daß der Turm nicht vollständig zerstört worden war. Vom oberen Teil ragte nur noch eine einzige verbrannte Mauer fast sechs Meter in die Höhe. In den Eisenklammern an ihrer Außenseite hingen die letzten Reste einer ehemaligen Leiter. Die offene kleine Kammer im Erdgeschoß war jedoch vollkommen intakt. Sie wurde von einer natürlichen Felsformation gebildet und stellte eine Rückzugsmöglichkeit dar, dieden Reisenden oder Wachposten früherer Tage Schutz vor den Elementen geboten hatte. Mit dem Rücken zum Eingang kniete dort eine einsame Gestalt auf dem Boden. Surya.
    »Warum hat er diese Richtung eingeschlagen?« wandte Shan sich an Lokesh. »Vor uns liegt Lhadrung. Was ist mit den Soldaten? Man könnte ihn verhaften. Die Leute wurden in Panik versetzt. Falls jemand fragt, werden sie verraten, daß er ein Mönch ohne Lizenz ist. Sie haben vor ihm inzwischen genausoviel Angst wie vor der Armee.« Er sah Lokesh an und entnahm dessen Miene nichts als Schmerz und tiefe Verwirrung. »Wir müssen ihn zurück nach Hause bringen, in Sicherheit. Dann können wir ihn fragen, was geschehen ist, und ihm weiterhelfen.« Falls Oberst Tan etwas von illegalen Mönchen oder einem bekennenden Mörder erfuhr, würde er die Gegend von Truppen durchkämmen lassen. Wer auch immer den Soldaten in die Hände fiel, würde vermutlich reden. Yerpa war seit vielen Jahrzehnten unbemerkt geblieben, doch unter dem Einfluß der Verhörspezialisten würde Surya den Standort letztlich preisgeben. Dann müßte Yerpa das Schicksal von Zhoka teilen, und auch Gendun und all die anderen Mönche würden hinter Gittern landen.
    »Er will nicht in die Stadt«, sagte Lokesh, klang dabei aber unschlüssig. »Er wollte hierher. Unten auf dem Hof hat er nichts mehr gesagt, nur die schrecklichen Worte, die du mit angehört hast. Dann ist er plötzlich aufgestanden, hat zum Turm geschaut und ist losgelaufen. Als ich ihn eingeholt habe, war er damit beschäftigt, die Wände da drinnen von dem alten Staub zu säubern. Dann sind das Mädchen und Gendun gekommen.« Er wies auf einen Felsen in etwa dreißig Metern Entfernung, wo der Lama saß und Dawa beobachtete, die an einer Quelle das Blut von ihrem Kleid wusch. Ihre Tante und ihr Onkel warteten mit den anderen Kindern ein Stück abseits und beobachteten sie ratlos. »Sie läßt niemanden an sich heran, nicht einmal Gendun. Sie sagt, sie will zurück in ihre chinesische Fabrikstadt. Sie sagt, sie haßt Mönche. Sie sagt, sie haßt uns alle, weil wir sie betrogen hätten.«
    Shan mußte an Dawas Erlebnisse in den Klosterruinen denken. Das Mädchen hatte zunächst Verwirrung und Angstverspürt, dann Ehrfurcht und Freude und am Ende Entsetzen und Schmerz. »Sie ist hergekommen, um das Leben in Tibet kennenzulernen«, merkte Shan lakonisch an.
    Lokesh nickte ernst. »Wir müssen Surya nach Yerpa zurückbringen. Er bedarf umfassender Heilung.«
    Die Stimme seines Freundes hatte auf Shan noch nie so zerbrechlich gewirkt. Er verfolgte, wie Lokesh mit seltsam sehnsüchtigem Blick auf Zhoka hinabschaute. »Was mit Surya geschehen ist, ist auch dem Mädchen widerfahren. Was haben wir bloß falsch gemacht?« fragte der alte Tibeter. Shan konnte nur langsam den Kopf schütteln.
    Nach einer Weile ging Shan zu Dawa und setzte sich neben ihr ins Gras. Sie nahm keinerlei Notiz von ihm, sondern versuchte unbeirrt, das Blut von ihrem Kleid abzuwaschen.
    »Ich weiß, daß du unter der Erde etwas Schreckliches erlebt hast«, sagte er. »Ich war auch dort unten und habe das Blut und die Knochen gesehen. Es war so dunkel, und es gab unheimliche Geräusche. Ich habe mich gefürchtet, genau wie du. Aber außer mir war da niemand. Hast du jemanden gesehen?«
    Das Mädchen gab ein leises Wimmern von sich. Nein, erkannte er, sie summte ein Lied. Die Melodie klang vertraut und ließ Shan unwillkürlich frösteln. »Der Osten ist rot«, eine der Standardhymnen der Politoffiziere, die auch oft aus den Lautsprecheranlagen der chinesischen Schulen ertönte. Schweigend wandte Shan sich zu Lokesh und Gendun um und versuchte zu begreifen, weshalb die beiden sich nicht eifriger um Surya kümmerten. »Dawa«, unternahm er dann einen zweiten Versuch. »Ich muß wissen, was du gesehen hast. Ich möchte gern helfen.«
    Das Mädchen fing mit einer Hand das blutige Wasser auf, das

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