Der verlorene Sohn von Tibet
aus dem Kleid tropfte, und musterte es voll grausiger Faszination. Als Shan schon aufstehen wollte, hob Dawa den Kopf. »Er hatte ein Auge in der Hand«, flüsterte sie. »Und einen Nagel durch den Körper.« Dann stimmte sie wieder ihr scheußliches Lied an.
Als Shan zu Lokesh zurückkehrte, eilte eine Gestalt heran und hielt dermaßen abrupt am Eingang des Turms inne, daß sie fast hineinstolperte. Liya stützte sich mit einer Hand am Felsab und rang nach Luft. »Schnell!« rief sie Surya zu und betrat den Raum. »Er muß von hier verschwinden«, keuchte sie, als Shan sich zu ihr gesellte. »Falls es nicht anders geht, müssen wir ihn tragen.« Ihre Stimme erstarb, und sie starrte den Mönch an.
Surya rieb die Rückwand der kleinen Kammer hastig mit einem Stück Stoff frei, das er offenbar von seinem Untergewand abgerissen hatte, und murmelte dabei vor sich hin. Es war ein Bild. Surya bemühte sich hektisch, ein Wandgemälde zu säubern, das viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte alt sein mußte. Links davon waren die jeweils fünfundzwanzig Zentimeter hohen Buchstaben eines verblichenen mani -Mantras zu erkennen. Auf der Wand zur Rechten prangte ein jüngeres Werk, ein komplexes Gemälde mehrerer Gottheiten, dessen Erstellung vermutlich viele Tage gedauert hatte. Shan betrachtete die satten Farben und den kraftvollen Pinselstrich des zweiten Bildes, wandte sich zu Lokesh um und fand in dessen Blick die eigene Überraschung bestätigt. Der unverkennbare Stil dieses Gemäldes war ihnen vertraut. Es handelte sich um eine Arbeit von Surya, doch der alte Mönch interessierte sich keinen Deut für das eigene Werk.
»Wer ist das denn?« flüsterte Liya mit Blick auf das Wandgemälde, das er reinigte. Auch Shan war sich über die zentrale Gottheit nicht ganz im klaren. Es sah nach Tara der Beschützerin aus, und zwar in einer der grimmigen Verkörperungen, die gegen spezielle Dämonen und Ängste kämpften. Allerdings trat jede der Hauptgottheiten in mannigfachen Erscheinungsformen auf, und Shan war längst nicht mit allen vertraut.
Er wollte Lokesh fragen, aber sein alter Freund starrte mit offenem Mund das Gemälde an. »Wie schrecklich«, flüsterte Lokesh und schaute voller Sorge zurück nach Zhoka. Shan wußte, daß damit nicht die Fähigkeiten des Künstlers gemeint waren, sondern das Böse, vor dem dieses Bild schützen sollte. Surya stimmte in leisem, dringlichem Tonfall ein Mantra an. Shan erkannte es sofort. Om ah hum, ein besonderes Mantra der Ermächtigung, das letzte in einer Folge von Gebeten, mittels deren Gottheiten beschworen wurden.
»Es bleibt keine Zeit mehr«, sagte Liya zu Surya. »Du mußtfliehen.« Sie ging zu ihm und vollführte mit leeren Händen eine ziehende Geste, als scheue sie davor zurück, den Mönch zu berühren, dessen Arme immer noch mit getrocknetem Blut besudelt waren. »Keine Zeit«, wiederholte sie verzweifelt.
Shan jedoch spürte, daß für Surya nur dieses Gemälde zählte. Mochten sie alle auch Angst haben, der Mönch hatte etwas viel Schrecklicheres erlebt und schien als einziger zu begreifen, wie schlimm es in Wahrheit um sie stand. Er war zu der Einsicht gelangt, daß die Gottheit auf dem Bild ihre einzige Verteidigungsmöglichkeit darstellte. Nun erst registrierte Shan, daß unterhalb des alten Gemäldes etwas an der Wand geschrieben stand, wahrscheinlich ein Mantra. Jemand hatte es mit dunkelroten Strichen unleserlich gemacht. Die Farbe stammte aus einer der kleinen Holzröhren, die Surya unter seinem Gewand an einem Lederriemen um den Hals trug. Shan sah, daß die Hände des Mönchs frische rote Flecke aufwiesen, die nicht von dem getrockneten Blut herrührten. Surya hatte in diesem kleinen Unterschlupf nicht nur das alte Gemälde freilegen, sondern auch die Inschrift tilgen wollen.
»Om hum tram huih ah«, rief Surya laut und entschlossen. Es war ein Mantra, um Hüter zu binden. Dann verstummte der alte Mönch und starrte in die Augen der Gottheit. Es war, als habe er soeben einen Pakt mit Tara geschlossen.
Liya sah den Mönch an und schob sich dann an Shan vorbei nach draußen. Ihr standen Tränen in den Augen. Er beobachtete, wie sie die Landschaft jenseits von Zhoka absuchte, als halte sie nach jemand Bestimmtem Ausschau, und dann die fliehenden Tibeter zu dem Pfad unterhalb der Kammlinie scheuchte, der hinter dem Felsvorsprung in steilen Serpentinen nach unten verlief und bis zu den Zeltlagern und Häusern auf den Hängen des Tals von Lhadrung führte. Liya
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