Der verlorene Sohn von Tibet
hörte, wie jemand ein Mantra anstimmte, die Anrufung der Mutter Tara.
Shan fand Surya auf dem Hof wieder, wo er eine Schale tsampa aß, geistesabwesend kaute und mit entrückter Miene gen Himmel blickte. Shan setzte sich neben ihn. Es dauerte eine ganze Weile, bis Surya Notiz von ihm nahm.
»Ich kenne dich«, sagte er mit krächzender Stimme, und Shans Herz vollführte einen kleinen Sprung. »Du hast mir einen Pinsel gebracht, einen sehr guten sogar. Woher hast du es gewußt?«
»Surya, ich bin’s, Shan.«
Der versonnene Ausdruck kehrte auf das Antlitz des alten Mannes zurück.
»Surya, hör mir gut zu. Ich weiß jetzt, was am Festtag in Zhoka geschehen ist. Ich habe den Mann getroffen, der die Diebe bezahlt. Ich bin in dem unterirdischen Palast gewesen. Ich war auf dem Sims oberhalb der kleinen Kapelle, in der du den Toten gefunden hast. Du bist auf die Plünderer gestoßen, und das hat dich wütend gemacht. Du wußtest, daß sie oben auf diesem Sims waren und versuchten, einen Tunnel zu graben, um sich unbefugt einzuschleichen. Als du sahst, daß sie bereits ein Wandgemälde gestohlen hatten, hast du vor lauter Zorn die alte Leiter weggenommen, die nach oben auf das Sims führte. Du hast sie den Gang hinuntergeschleift und ins Wasser geworfen, so daß sie in den Abgrund gespült wurde. Und als du zurückgekommen bist, hast du diesen Toten in seinem Blut liegen gesehen. Du dachtest, du hättest ihn getötet. Du hast angenommen, er habe auf der Leiter nach unten steigen wollen, sei abgestürzt und habe sich beim Aufprall mit dem eigenen Meißel durchbohrt. Aber so ist es nicht gewesen. Er wurde oben auf dem Sims mit einem Meißel angegriffen, weil er die Männer aufhalten wollte, die in den Mandala-Tempel eingedrungen sind.« Shan mußte immer noch daran denken, wie grimmig Dolan ihn angestarrt hatte, als Shan ihm das thangka nicht überlassen wollte. Die Mönche können mich nicht davon abhalten, die richtigen Knöpfe zu drücken . Der Befehl zu Lodis Ermordung war zweifellos aus Seattle erfolgt, genau wie später beim Mord an McDowell. Dolan hatte auf die Knöpfe seines Telefons angespielt.
»Dann hat man ihn nach unten geworfen und sterben lassen. Du hattest nichts damit zu tun.«
Suryas Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.
»Du hörst mir zu«, sagte Shan. »Etwas in dir hört mir zu, das weiß ich. Du hast niemanden getötet. Du kannst zurückkehren und dein Gewand wieder anlegen.«
Surya blickte lange Zeit auf seine Hände hinab und sah Shan dann wohlwollend an. »Du hast ein gütiges Gesicht«, sagte er. »Es tut mir leid um deinen Freund, der diese Leiter weggenommen hat.« Er seufzte. »Aber weißt du, Seelen werden nicht durch eine körperliche Handlung vernichtet. Eine Seele verzehrt sich nicht durch den eigentlichen Akt des Tötens, sondern womöglich durch das Feuer des Hasses, der ihm vorausgeht, oder gar durch die Feststellung, daß ein langes Leben verschwendet worden ist.«
Unvermittelt fielen Shan die Worte aus Bruder Bertrams Feder ein. Götter werden durch den Tod erneuert. Als er nun das Gesicht des alten Mannes musterte, wurde ihm endlich klar, daß es nicht mehr sein alter Freund war, der hier vor ihm saß, daß Surya tatsächlich gegangen war, daß das Feuer, das in der Seele des alten Tibeters gewütet hatte, einen Großteil der Erinnerungen verschlungen hatte, den Humor und die Leichtigkeit, die so typisch für Surya gewesen waren. Zurückgeblieben war eine seltsam unschuldige Ehrfurcht, eine Gottheit, die Surya und doch nicht Surya war, ein neuer Künstler, der andere Götter auf andere Weise malen mußte. Und das, so würde Gendun sagen, war Wunder genug.
Shan stand auf und wollte schon gehen. Dann aber versuchte er noch ein letztes Mal, an die Erinnerungen des alten Mannes zu appellieren. »Es findet ein erbitterter Kampf um die Reichtümer von Zhoka statt«, sagte er. »Von weither sind Leute gekommen und stellen sich nun gegen die Lamas.«
»Solche Leute bekämpfen nur sich selbst«, sagte der alte Tibeter. »Sie kennen es nicht anders. Jedermann folgt einem anderen Weg ins Zentrum des eigenen Universums.« Er stellte seine Schale ab und erhob sich. »Die Natur der Erdbändigung liegt nicht in der Erde, sondern in den Menschen«, sagte er und hielt mit fragendem Blick inne, als überraschten ihn die eigenen Worte. Nach einem Moment zuckte er die Achseln und kehrte in den Stall zurück.
Shan schaute ihm hinterher und überdachte Suryas eigentümliche letzte Bemerkung.
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