Der verlorene Sohn von Tibet
Sie klang wie eine Prophezeiung.
Die Kotsammler hatten ihre Arbeit eingestellt und sich nervös hinter einem der rostigen Tanks versammelt. Shan verließ das Gelände und erkannte sofort den Grund für ihr Verhalten: Auf der Straße stand Oberst Tan neben seinem Wagen. Als Shan näher kam, öffnete Tan wortlos die Beifahrertür. Er war ohne Fahrer oder die übliche Eskorte unterwegs und steuerte den Wagen eigenhändig mit hoher Geschwindigkeit aus der Stadt und vorbei an der Kaserne. Unterwegs sprach er immer noch kein Wort und würdigte Shan keines Blicks, bis sie den Hügel oberhalb des Lagers der 404. Baubrigade des Volkes erreichten. Tan hielt am Straßenrand, stieg aus und zündete sich sofort eine Zigarette an.
Das große Zelt, das man für Mings Ausrüstungsgegenstände errichtet hatte, war nicht mehr da. Statt dessen standen dort nun zwei Dutzend kleinerer Zelte, das Feldlager einer Militäreinheit. Tan hatte neue Truppen aufmarschieren lassen. Die Fahrt hierher sollte Shan warnend daran erinnern, über welche Macht der Oberst auch weiterhin verfügte.
»Bist du dir eigentlich darüber im klaren, wer dieser Amerikaner ist, den Ming in die Berge mitgenommen hat?« fragte Tan in einem sonderbaren, fast besinnlichen Tonfall.
»Er ist ein Verbrecher.«
»Nein«, entgegnete der Oberst tonlos. »Er ist einer der reichsten Männer der Welt und ein großer Gönner des chinesischen Volkes. Er hat mit dem Vorsitzenden der Partei zu Abend gegessen, verfügt über dessen private Telefonnummer und darf nach Belieben Gebrauch davon machen. Außerdembesitzt er direkten Zugang zum Präsidenten der Vereinigten Staaten.« Tan nahm einen Zug von seiner Zigarette. »Es ist nicht möglich, ihn als Kriminellen zu bezeichnen. Zwei Generäle haben mich wegen ihm angerufen, einer davon aus Peking.«
Shan sah ihn an. »Ich dachte, Sie hätten mich hergebracht, um mich zu warnen.«
»Was, zum Teufel, mache ich hier wohl in diesem Moment?«
»Es klingt eher so, als würden Sie versuchen, mich zu schützen.«
Tan wandte sich ab, trat gegen einen Kiesel und entfernte sich einige Schritte.
»Er hat die Britin namens McDowell ermorden lassen«, sagte Shan zu seinem Rücken. »Die Frau, die den hungrigen Kindern geholfen hat.«
Der Oberst drehte sich wieder zu Shan um und zog ein Stück Papier aus der Tasche. »Dein Inspektor Yao wurde abberufen. Er soll unverzüglich nach Peking zurückkehren, wo man ihm einen neuen Auftrag zuweisen wird.« Er zeigte Shan das an Yao adressierte Fax mit dem eleganten Briefkopf des Ministerrats.
»Weiß Yao schon Bescheid?«
»Ich bin zum Gästehaus gefahren, um ihm das Schreiben zu geben. Ich habe es in einem Umschlag in sein Schlafzimmer gelegt.«
Shan zog eine Augenbraue hoch. »Das heißt, Sie wissen es nicht offiziell und haben ihn nicht offiziell verständigt.«
Tan nickte kaum merklich und runzelte mürrisch die Stirn. Dann blickte er auf das Straflager hinab. »Ein abberufener Ermittler. Ein amerikanischer FBI-Agent, der in China keinerlei Amtsgewalt besitzt. Und du. Ihr könnt die anderen niemals aufhalten.«
Shan biß die Zähne zusammen, damit man ihm die Überraschung nicht anmerkte. Tan ließ ihn diskret wissen, daß er nichts unternehmen würde, um Shan und seine Freunde von ihrer Rückkehr in die Berge abzuhalten.
»Einer meiner Helikopter mußte repariert werden und benötigt einen Testflug – zumindest wird das in den Unterlagenstehen. Die Maschine kann euch bei Zhoka absetzen. Oder in einiger Entfernung, falls dir das lieber ist. Aber mehr kann ich nicht für euch tun.«
»Ich möchte, daß mein Sohn uns begleitet.«
»Er ist ein Sträfling. Die Papiere für seinen Rücktransport in die Kohlengrube liegen auf meinem Schreibtisch. Ich habe die Angelegenheit bereits viel zu lange aufgeschoben.« Tan musterte Shans Gesicht. »Hast du noch nicht genug Schmerz in deinem Leben? Mußt du dich unbedingt darum reißen, dir immer noch mehr aufzubürden? Falls er ausreißt, wird man dich wegen Beihilfe zur Flucht anklagen. Das bedeutet mindestens fünf Jahre.«
»Ich hätte mit zehn gerechnet.«
Tan zündete sich die nächste Zigarette an. In seinem Blick funkelte ein Vergnügen, als freue er sich, daß Shan ihn anflehte. »Falls Ming oder dieser Dolan die Armee zu Hilfe ruft, werden meine Truppen sie unterstützen.« Er ließ den Rauch aus dem offenen Mund treiben. »Ich will nur, daß diese Leute aus meinem Bezirk verschwinden.«
Sie landeten anderthalb Kilometer südlich von
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