Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
rannte fünfzig Meter zurück, hob sich ein stolperndes Kind auf den Rücken und trug den kleinen Jungen mit gespielter Fröhlichkeit am Turm vorbei zu seinen müden Eltern am Ende des Grats. Als die Leute den Pfad hinabstiegen, rief Liya ihnen einen Segen hinterher. Shan trat auf die grasbewachsene Bergflanke hinaus und bedeutete Jara, er solle mit seiner Familie aufbrechen.
    Es war nur noch ein halbes Dutzend Tibeter in Sicht, als Liya sich umdrehte und verwirrt innehielt. Shan folgte ihrem Blick und sah, daß Surya nun mit seitlich ausgestreckten Armen draußen auf dem Sims stand und in das tiefe Tal schaute. Lokesh machte einen Schritt auf den Mönch zu, erstarrte und schien angestrengt zu lauschen. Als Shan näher kam, hörte er es ebenfalls: ein tiefes Donnern, das aus wolkenlosem Himmel ertönte. Plötzlich tauchten an der Kammlinie mehrere schreiende Gestalten auf, stolperten panisch den Pfad hinauf, den sie eben erst hinabgestiegen waren, und ließen achtlos ihre Körbe und Taschen fallen.
    Shan begriff zu spät, was das metallische Rattern zu bedeuten hatte. Als er Lokesh am Arm packte, wuchs der Lärm zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen an. Jenseits des Grats stieg ein riesiger schwirrender Rotor auf, gefolgt von dem dunkelgrauen Rumpf eines Armeehubschraubers. Die Leute brüllten wild durcheinander und stoben nach allen Seiten davon. Jara stapfte durch den Bachlauf und eilte zu seiner Nichte, während seine Frau die anderen Kinder einsammelte. Auch Dawa sprang auf und lief los, aber nicht auf ihren Onkel zu, sondern am Hang entlang in die entgegengesetzte Richtung.
    Shan schickte Lokesh zurück zu den Ruinen und rannte zu Gendun. Der Helikopter blieb derweil dicht über dem Boden schweben. Als Shan dem Lama auf die Beine half, sprang ein halbes Dutzend Soldaten in voller Kampfausrüstung aus der Maschine.
    Shan und seine Freunde liefen los, stolperten, strauchelten über Steine. Er mußte mehrmals innehalten und Gendun helfen, ihn regelrecht wegzerren, denn der Lama schien sich nicht beeilen zu wollen und angesichts der Soldaten keine Angst, sondern Neugier zu verspüren. Plötzlich blieb Lokesh, der drei Schritte vor ihnen lief, stehen und blickte zu dem alten Steinturm.
    Auch Shan drehte sich verwundert um. Die Soldaten verfolgten niemanden, nicht einmal Gendun, der ein Mönchsgewand trug. Surya stand mitten auf dem Sims, hatte sich zu den Neuankömmlingen umgewandt und hielt noch immer dieleeren Hände wie zum Gruß ausgestreckt. Die Soldaten umringten ihn mit schußbereiten Waffen und warteten kurz ab, während einer von ihnen eine Hand ans Ohr preßte. Dann wurde Shan voller Entsetzen Zeuge, wie die Männer Surya packten, ihm den ledernen Halsriemen mit den Farben herunterrissen, ihn zum Hubschrauber zogen und unsanft hineinhoben. Kurz darauf saßen auch die Uniformierten wieder in der Maschine, die sogleich aufstieg und nach Norden abdrehte.
    Die Panik der Tibeter legte sich nicht. Niemand blieb stehen. Die furchtsamen Schreie erschallten auch weiterhin. Manche der Leute flohen unbeirrt den Berg im Westen hinunter, andere zogen sich nach Zhoka zurück. Dawa befand sich unterdessen allein hoch oben auf dem gegenüberliegenden Hang und schaute sich kein einziges Mal nach ihren Verwandten um, sondern rannte hektisch auf die schneebedeckten Gipfel am südlichen Horizont zu. Ihr Onkel saß weit hinter ihr am Boden und hielt sich den Knöchel. Offenbar hatte er sich verletzt.
    Shan kehrte wie betäubt zu dem Felsen zurück, auf dem eben noch Surya gestanden hatte. Rund um die Stelle sah er die tiefen Abdrücke der schweren Soldatenstiefel und die zertretenen hölzernen Farbröhrchen. Er wagte sich bis an den Rand der Schlucht vor. Der Helikopter war verschwunden. Die Armee hatte wie ein Blitz aus heiterem Himmel zugeschlagen und sich genauso schnell wieder zurückgezogen.
    »Niemand wird ihn je wieder zu Gesicht bekommen«, sagte eine tonlose Stimme hinter ihm. Liya drehte sich um, ließ sich auf ein Knie nieder und fing an, die Gegend im Süden mit ihrem abgewetzten Fernglas abzusuchen, als rechne sie damit, daß jemand den Hang oberhalb von Zhoka erklimmen würde. Nach einem Moment stand sie wieder auf und seufzte. »Vor zwei Monaten hat ein Mann in Lhasa mitten vor der Militärzentrale eine tibetische Flagge entrollt«, sagte sie. »Ein Hubschrauber der Öffentlichen Sicherheit ist mit ihm über die Berge geflogen. Bei der Landung war der Mann nicht mehr an Bord. So geht man dort mit politischen

Weitere Kostenlose Bücher