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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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und als er hinter sich noch jemanden hörte, dachte er zunächst an Corbett. Doch es war Ko, der im Schatten an seine Seite trat. Er hatte eine der elektrischen Lampen mitgenommen.
    Sie schienen sich in einem Kasten aus dicken Balken zu befinden, einer Kammer von etwa dreieinhalb Metern Seitenlänge, deren geborstene Bodenbretter kreuz und quer nach oben ragten. Hinter ihnen erhob sich eine kurze intakte Holzwand, deren Bohlen alle am unteren Ende gebrochen waren. Dicht vor ihnen bahnte Ming sich einen Weg durch den Raum, leuchtete nervös umher und achtete dabei vor allem auf die Deckenbalken, um deren Tragfähigkeit er sich offenbar sorgte. Plötzlich stöhnte er auf und wich zurück. Lokesh drängte sich an ihm vorbei, hielt kurz inne, streckte die Hand nach hinten aus und berührte Kos Arm. »Du mußt Gendun Rinpoche holen«, sagte er sanft und machte für Shan Platz. Ko, der schlagartig blaß geworden war, eilte davon.
    An der Wand vor ihnen saßen zwei Tote, auf denen der Staub mehrerer Jahrzehnte lag. Dennoch konnte man immer noch ihre Gesichter erkennen, die in der trockenen kalten Luft erhalten geblieben waren, genauso das kurze graue Haupthaar der beiden oder den goldfarbenen Saum des kastanienbraunen Gewands, das der linke der Männer trug. Auch der andere Mann war in eine Robe gekleidet, und mit seinem farblosen vertrockneten Gesicht hätte er wie irgendein tibetischer Mönch gewirkt, wäre da nicht der waagerechte Schnurrbart unter seiner Nase gewesen – oder die ungewöhnliche Jacke, die er übergezogen hatte. Als Shan sich vor ihn hockte und den schmutzverkrusteten Stoff berührte, erkannte er, daß es ein roter Waffenrock war, ein golden bestickter Waffenrock, die Ausgehuniform eines britischen Soldaten aus längst vergangenen Zeiten. Shan hatte diese Uniform zuvor schon gesehen, aufeinem Foto in dem kleinen Wohnhaus in Bumpari. Bruder Bertram, der einstige Major McDowell, schien die eigenen Beine anzustarren. Sie waren eindeutig gebrochen, und der dunkle Fleck am Boden deutete darauf hin, daß der zerschmetterte Knochen zahlreiche Blutgefäße durchbohrt hatte.
    Als Lokesh sich neben die Leichen kniete, sah Shan sich noch einmal die zerschmetterten Balken der Wände an. Sie waren nicht einfach durchgebrochen und wiesen auch keine Brandspuren auf, sondern schienen durch starken Druck geborsten zu sein. »Das hier war die Spitze des Turms«, sagte Shan, dem auf einmal alles klar wurde. »Eine Bombe hat den Turm getroffen und zum Einsturz gebracht. Dabei ist die oberste Kammer hinabgerutscht und hat die Balken zermalmt.« Er schaute zu den gesplitterten Bohlen in der Nähe des Zugangs. »Das da hinten ist keine Holzwand, sondern ein früherer Balkon, der durch den Sturz von der Wand abgetrennt und nach oben gekippt wurde.«
    »Aber warum waren sie hier und nicht im Tempel?« Lokesh berührte vorsichtig eine graue Decke, die auf dem Schoß des Majors lag. Die Staubschicht fiel ab, und man konnte leuchtende Farben erkennen, diagonale rote, weiße und blaue Streifen.
    »Weil sie die Bomber aufhalten wollten«, sagte Shan. »Über dem Bett des Majors hat etwas Großes gehangen. Diese Flagge. Als er hörte, was geschah, hat er sich seine Uniformjacke und die Fahne gegriffen. Die Piloten sollten einen britischen Soldaten und die britische Flagge sehen. Er hat gehofft, es würde sie aufhalten.«
    »Und der Abt«, krächzte eine Stimme hinter ihnen. Gendun war eingetroffen. »Dort bei ihm ruht der selige Abt.« Er berührte den goldenen Saum der Robe, der auf ein ranghohes Mitglied des alten gompa schließen ließ. »Der letzte der Steindrachen.« Shan drehte sich zu ihm um. Gendun klang nicht im mindesten traurig. Der alte Lama trat mit strahlendem Lächeln vor und nahm ehrfürchtig die mumifizierte Hand des Abtes. Er hatte die Gewänder aus dem Tempel mitgebracht. Lokesh breitete jeweils eines über den Beinen der Toten aus.
    Während Shan seinem alten Freund half, sah er Ko anderthalb Meter entfernt stehen. Der Junge hatte das Licht gelöscht und starrte die Leichen an. »Sie haben beide noch gelebt, als sie hier unter den Trümmern landeten, aber ihre Verletzungen waren tödlich«, erklärte Shan. Er deutete auf den unnatürlich abgeknickten linken Arm des Abtes und den dunklen Fleck auf seiner Robe. Wahrscheinlich hatte ein Schrapnell ihm den Arm gebrochen und seinen Körper durchbohrt. »Dann haben sie hier im Dunkeln gesessen. Sie waren gefangen und wußten, daß sie sterben würden. Und daß man ihr

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