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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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müssen Sie erst bei Ihrer eigenen Gottheit fündig werden.«
    Dolan drehte sich um und verpaßte Lokesh eine schallende Ohrfeige. »Du beleidigst mich, alter Mann«, zischte der Amerikaner. »Ich habe euer überhebliches Getue langsam satt. Wenn ihr so weitermacht, werdet ihr mich kennenlernen.«
    Lokesh griff sich nicht an die Wange. Er schien den Schlag überhaupt nicht zu bemerken. »Setzen Sie sich zu uns«, sagte er besorgt. »Wir können uns ein ruhiges Fleckchen suchen und über alles reden.«
    Noch bevor Shan irgendwie eingreifen konnte, hatte Dolan bereits Lu herangewinkt. Der kleine Chinese zog Lokesh weg. Der Amerikaner schaute ihm hinterher und wirkte dabei nicht länger verärgert, sondern allenfalls ein wenig neugierig.
    Dolan bestand darauf, als erster in die Kammer zu steigen. Er schnallte sich eine kleine Grubenlampe um die Stirn und band sich ein Seil um die Taille. Dann ließ er seinen siegreich funkelnden Blick über alle Anwesenden schweifen und bedachte Corbett und Yao, die im Schatten standen, mit einem spöttischen Lächeln. Shan verfolgte beunruhigt, wie Ko sich unauffällig nach vorn schob und Dolan voller Faszination nicht aus den Augen ließ. Der Amerikaner verschwand in dem Loch, und Ming reichte ihm einige Ausrüstungsgegenstände: zwei der Metallkoffer, eine Kamera, mehrere Lampen. Sie sprachen miteinander, wenngleich Shan die Worte nicht verstehen konnte. Dann stand Ming auf und zog mit theatralischer Geste ein kleines Funkgerät aus seiner Gürteltasche, als wolle er alle daran erinnern, daß es in seinem Ermessen lag, jederzeit Hubschrauber voller Soldaten herbeizurufen.
    Auf einmal ertönte von irgendwoher ein lautes, entsetztes Stöhnen, dann ein verzweifelter Schrei. Als Ming sich über den Rand der Öffnung beugte, spulte das aufgerollte Seil an seiner Seite sich jäh mit hoher Geschwindigkeit ab. Man hörte ein Schluchzen, und als Ming vorsprang, um das Seilende zu packen, brach unter seinem Gewicht ein Teil der Kammer ein. Der kleine Schutthaufen geriet ins Rutschen, Steine rollten hinab, Staub stieg auf, und Balken knarrten. Als der Staub sichlegte, stand Ming am Rand eines neuen, größeren Lochs, das teilweise mit Trümmern gefüllt war.
    Alle eilten herbei, gruben hektisch und räumten die Steine und Holzreste weg, die durch den Einsturz zum Vorschein gekommen waren. Ming und Lu riefen panisch Dolans Namen. Nach zwanzig Minuten war die ursprüngliche Öffnung weit genug freigelegt, daß Khan hindurchpaßte. Er folgte dem Seil und kehrte kurz darauf zurück. Dolan lag quer über seinen Schultern.
    Der Amerikaner war nicht bewußtlos und schien auch keine Verletzung davongetragen zu haben, aber sein Blick wirkte sonderbar glasig. Er saß kreidebleich auf den Steinen, rieb sich die Arme, als sei ihm kalt, und starrte ins Leere. Als Ming und Lu ihm Wasser anboten, reagierte er nicht. Schließlich stand er auf, ging zu Ming, stieß ihn zu Boden, stürzte sich auf ihn und schlug mit den Fäusten auf sein Gesicht und seine Brust ein, während Lu versuchte, ihn wegzuzerren. Ming war vor lauter Entsetzen erstarrt und wehrte sich nicht, obwohl seine Nase anfing zu bluten.
    Dolan kam wieder etwas zur Besinnung. Er schüttelte Lu ab, stand auf, ignorierte Ming und wandte sich nun Lokesh zu. »Du hast es gewußt, du Scheißkerl!« schrie er und sprang vor, als wolle er den alten Tibeter angreifen. Shan stellte sich sofort schützend vor Lokesh, unmittelbar gefolgt von Corbett.
    Lokesh wich nicht zurück und ließ sich von dem merkwürdigen Wutausbruch des Amerikaners in keiner Weise beeindrucken. »Ich wußte nur, daß Sie hier nicht finden würden, was Sie brauchen«, stellte er ruhig fest. »Und das habe ich Ihnen auch gesagt.«
    Dolan nahm das Armeefunkgerät, schaltete es ein und hielt inne, weil ihm die Tibeter auffielen, die sich in den Schatten der Mauer zurückgezogen hatten und ihn ängstlich anstarrten. Einige von ihnen rannten bereits den Hang hinauf, um vor dem wilden Amerikaner zu fliehen. Dolan schien einen Funkspruch absetzen zu wollen, stieß dann aber einen Fluch aus, ließ das Gerät sinken und kehrte mit gehässiger Miene zu dem Lagerplatz auf dem Innenhof zurück.
    Als Shan und Lokesh den Eingang der Kammer erreichten, hatte Lu inzwischen das Seil an einem nahen Pfeiler befestigt und ließ soeben Ming nach unten. Wortlos setzte Lokesh sich an den Rand der Öffnung, schwang die Beine herüber und sprang hinunter, sobald Ming beiseite getreten war. Shan folgte ihm,

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