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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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die Tibeter anwies, alle abgetragenen Steine über dem Zettel aufzuhäufen. Dies schien den Hirten neue Kraft zu verleihen, und so hoben sie schweigendein Loch im Zentrum des orangefarbenen Quadrats aus. Dem Amerikaner entging, daß Jara die Scherben der von Dolan zerbrochenen tsa-tsa zu Lokesh brachte, damit dieser sie bei dem Gebet bestatten würde.
    Sie arbeiteten eine Stunde, dann noch eine. Das Loch im Schutt war fast anderthalb Meter tief, und ihr Steinhaufen wurde höher und höher. Die langen Splitter ehemaliger Holzbalken kamen zum Vorschein, dann schwere Steinplatten, die laut Dolan das Dach des Gewölbes stützten. Shan schaute immer wieder zu der Zeichnung, die Gendun angefertigt hatte.
    Ming schien Dolans Begeisterung nicht länger zu teilen. Er warf Yao und Corbett nervöse Blicke zu und beugte sich mehrmals dicht an Lus Ohr, wobei dieser stets den Kopf schüttelte, als sei er anderer Meinung.
    Shan schleppte mit den anderen die Trümmer weg. Er stand im Schutt und wartete, daß Jara einen Stein an ihn weiterreichen würde, als ihm auffiel, daß Gendun verschwunden war. Er führte sich die Skizze des alten Lama noch einmal vor Augen. Der Turm mußte auf einem Fundament aus massivem Fels errichtet worden sein, und die Schatzkammer konnte eigentlich nur weit unterhalb liegen. Aber Dolans Geräte hatten einen Hohlraum inmitten der Trümmer angezeigt.
    Der amerikanische Magnat hatte sich in eine seltsame Euphorie hineingesteigert und trieb die Arbeiter mit funkelnden Augen zu immer mehr Leistung an. Dabei drohte er ihnen nicht etwa, sondern stellte Belohnungen in Aussicht. »Zwanzig Dollar für jeden von euch, falls wir noch bei Tageslicht fertig werden«, verkündete er nach einer weiteren halben Stunde. Wiederum eine Stunde später erhöhte er den Betrag auf fünfzig Dollar, und obwohl er nie selbst mit anpackte, schien er fast genauso hart zu arbeiten; er blies die Pfeife, redete schmeichelnd auf die Tibeter ein, erzählte ihnen von den neuen Schuhen, die sie sich bald kaufen könnten, von den neuen Mützen oder den neuen Schafen. So manches Mal stand er ungeduldig vor seinen Apparaten, dann wieder beriet er sich mit Ming, der den amerikanischen Partner mit wachsendem Unbehagen beobachtete. Nein, die beiden waren keine Partner mehr, erkannteShan. Dolan hatte die Führung übernommen. Er und die beiden Männer in seinen Diensten hatten Mings Verbündete Lodi und Punji ermordet, und Dolan gab sich längst nicht mehr den Anschein, als wolle er den Schatz mit Ming teilen.
    Als Shan sah, daß Lokesh neben Genduns Zeichnung stand, legte er den Felsbrocken, den er schleppte, auf dem Steinhaufen ab und gesellte sich zu seinem alten Freund. »Unten im Turm muß sich eine Kammer befunden haben«, erklärte Shan. »Vielleicht ein Lagerraum oder der Zugang zu einer Treppe. Er verschwendet seine Zeit.«
    Lokesh nickte. »Ich habe schon einige Amerikaner getroffen, aber so einen noch nie. Ich glaube, man hat ihm nie beigebracht, wie man sucht.« Lokesh ließ sich nur selten zu solch mißbilligenden Äußerungen hinreißen. Vielleicht wollte er auch nur seine Betrübnis über Dolans Geisteszustand zum Ausdruck bringen. »Er sucht vollkommen blindwütig, doch seine Suche besitzt keinerlei Substanz.«
    Zwei Stunden vor Sonnenuntergang legten sie unter dem Schutt eine Öffnung frei, ein kleines Loch, das hinab in den schwarzen Schatten führte. Dolan eilte mit einer langen Stange herbei, stocherte prüfend in der Dunkelheit umher und stellte fest, daß es in knapp zwei Metern Tiefe einen festen Untergrund zu geben schien. Die eine Hälfte der Leute mußte nun weiterhin Steine wegräumen, die andere sollte mehrere große Metallkisten holen, die unter einer Plane auf dem Hof lagen. Es waren leere Transportbehälter für zerbrechliche, teure Objekte. Dolan war zu dem Schluß gelangt, der Schatz des Kaisers befinde sich endlich in unmittelbarer Reichweite.
    Plötzlich tauchte Gendun neben Shan auf. Er trug mehrere sorgsam gefaltete Gewänder bei sich, und Shan begriff, daß der Lama offenbar bis zur dritten Ebene des unterirdischen Tempels gestiegen war, um sie aus den Wohnquartieren zu holen. »Warum hast du …?« setzte Shan an, aber da ließ Gendun sich auch schon auf einem flachen Felsen nieder, holte seine Gebetskette hervor und stimmte traurig und müde ein Mantra an.
    Erschrocken registrierte Shan, daß Lokesh zu Dolan ging. »Das ist nicht der richtige Weg«, sagte der alte Tibeter mitlauter Stimme. »Um zu suchen,

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