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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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in der die Toten lagen. Am Himmel standen die ersten Sterne, und die einzelne Butterlampe neben dem Hügel fing an zu flackern, als würde sie gleich erlöschen.
    Plötzlich kam Dolan aus den Schatten zum Vorschein und legte ebenfalls einen flachen Stein auf den Haufen. »Ich wollte nicht ihre Ruhe stören«, sagte er verunsichert. »Ich hätte nie …«, setzte er an und verstummte. »Ming hätte es mir sagen müssen«, sagte er und bückte sich umständlich nach dem nächsten Stein. »Was vor fünfzig Jahren zwischen China und Tibet vorgefallen ist, hat doch nichts mit mir zu tun.« Er sprach hastig und packte den kleinen Stein mit beiden Händen, als wäre er unendlich schwer geworden. Dann war Dolan auf einmal wieder wütend. »Laßt euch das eine Lehre sein!« knurrte er. »Morgen ist der letzte Tag«, fügte er warnend hinzu und stapfte davon.
    »Er hat sich in die schaurigste Person verwandelt, die mir jemals begegnet ist«, sagte Corbett.
    »Seine Gottheit ringt nach Luft«, stellte Lokesh mit schwerer Stimme fest.
    Sie wickelten sich in ihre Decken und legten sich zum Schlafen nieder. Khan hielt weiterhin Wache, und Ko zog sich in einen Winkel der bröckelnden Mauern zurück. Shan fiel in einen unruhigen Schlummer und schreckte jäh aus einem furchtbaren Alptraum hoch. Er konnte sich nicht an Einzelheiten erinnern, empfand aber ein starkes Verlustgefühl. Es war um Ko gegangen – sein Sohn hatte ein schlimmes Schicksal erlitten, weil Shan und die anderen untätig geblieben waren.
    Er stand auf und stellte fest, daß Khan auf seinem Posten eingeschlafen war. Dann vertrat er sich zwischen den mondbeschienenen Ruinen ein wenig die Beine. Am Ende fand er sich auf dem Torhof wieder und nahm auf dem breiten Türsturz Platz, den Gendun bereits am Festtag genutzt hatte. Shan wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, aber es mußte mindestens eine Stunde gewesen sein, als neben ihm plötzlich eine Stimme erklang.
    »Warum haben Sie ihn mitgenommen? Er bringt sich noch um Kopf und Kragen. Er führt sich auf, als sei er lebensmüde.« Es war Yao.
    Die Worte taten nicht so weh, wie Shan erwartet hätte, denn auch ihm war längst dieser Gedanke gekommen. »Wenn das hier vorbei ist, wird man ihn wegbringen«, sagte Shan. »Dolan und Ming wissen, daß er Augenzeuge war. Man wird ihn so tief im Gulag vergraben, daß niemand ihn je wiederfindet. Sie wissen doch selbst, wie man es anstellt, einen Häftling verschwinden zu lassen: Entweder man exekutiert ihn, oder man ändert seinen Namen, verpaßt ihm eine neue Tätowierung und einen neuen Hintergrund und vernichtet die alte Akte. Mir wird keine Möglichkeit bleiben, nach ihm zu suchen. Ich werde ihn nie wiedersehen.« Bei den letzten Worten übermannten ihn seine Gefühle, und er vergrub das Gesicht in den Händen.
    »Wenn das hier vorbei ist, werden Dolan und Ming im Gefängnis sitzen.«
    »Nein«, widersprach Shan, hob den Kopf und schaute zu den Sternen hinauf. »Wir können lediglich versuchen, sie von dem Schatz fernzuhalten und die Lamas zu beschützen. Die beiden müssen aus diesem Bezirk verschwinden.« Ihm wurde klar, daß er Oberst Tans Worte wiederholte.
    »Es kann sich alles ändern«, sagte Yao. »Für Sie und Ko, meine ich.«
    »Ich wüßte nicht, wie.«
    »Sobald ich wieder in Peking bin, werde ich ein paar Leute aufsuchen, die ich kenne. Richter. Ich habe einen gewissen Einfluß. Verschwundene können nämlich auch wieder zum Leben erweckt werden. Ich kann das für Sie bewirken und Ihnen zu einem Neuanfang in Peking verhelfen. Sie gehören zu den besten Ermittlern, die mir je begegnet sind. Ich kann Ihnen eine Anstellung verschaffen, vielleicht sogar als Mitarbeiter meines Büros. Wenn das erledigt ist, können wir gemeinsam nach Ko suchen.«
    »Sie werden in Peking auch ohne mich schon genug Probleme haben.«
    Yao sah ihn schweigend an und rang sich dann ein Lächeln ab. »Was denn, etwa wegen dieser Abberufung? Das kommt fast jedes Jahr vor. Es ist nicht das erste Mal. Ich fahre zurück, lasse ein paar lebhafte Diskussionen über mich ergehen, und alles wird vergessen sein.«
    »Nicht wegen der Abberufung, sondern wegen der Tatsache, daß Sie ihr nicht Folge leisten.«
    Diesmal dauerte das Schweigen des Inspektors länger an. »Ich lasse Verbrecher nicht einfach davonkommen. Nein, auf keinen Fall.«
    »Fahren Sie zurück nach Peking«, sagte Shan. »Überlassen Sie es mir, eine Lösung zu finden.«
    »Sie wollen wohl den ganzen Ruhm für sich allein,

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