Der verlorene Sohn von Tibet
gompa zerstörte.«
»Nein«, widersprach Gendun flüsternd. »Sie wußten, daß ihr gompa niemals zerstört werden konnte.« Er ließ sich vor den mumifizierten Körpern nieder und stimmte ein Mantra an, das nicht wie eine Klage, sondern wie eine Begrüßung klang.
»Sie hätten Gewehre haben müssen«, sagte Ko. »Wenn man weiß, wie man es anstellen muß, kann man mit Gewehren ein Flugzeug abschießen.« Er wagte sich ein Stück näher heran. Auf seinem Gesicht lag eine gewisse Abscheu, aber auch etwas anderes, das ihn zu nötigen schien, die Überreste der beiden alten Männer nicht aus den Augen zu lassen. Trotz ihres qualvollen Todes sahen sie so heiter und gelassen aus, wie sie es zu Lebzeiten zweifellos gewesen waren.
Als Shan sich umsah, war Ming verschwunden. Gendun hatte sich in sein Mantra vertieft.
»Wir brauchen eine Lampe voller Brennstoff«, sagte Shan. Lokesh nickte. Gendun würde sich vermutlich stundenlang nicht von der Stelle rühren.
»Wieso holt er nicht einfach die Soldaten?« fragte Ko plötzlich. »Er könnte hier alles aufreißen lassen. Er kann tun, was er will.«
»Nein«, sagte Shan. »Das kann er nicht. Er will den Schatz stehlen. Niemand soll auch nur von seiner Existenz erfahren.«
»Aber wir wissen doch längst davon«, sagte sein Sohn.
»Er hält uns für machtlos. Er glaubt, er habe uns ausgeschaltet.«
»Und falls er den Schatz nicht finden kann, geht er einfach von hier weg?« fragte Ko.
»Er weiß, daß der Schatz hier ist, und wird auf keinen Fallaufgeben. Er geht fest von einem Erfolg aus, denn er glaubt, daß mindestens einer von uns das Versteck kennt.«
»Gendun? Nur Gendun kennt es, richtig? Dolan würde doch nicht … Wir können Gendun verstecken. Und wir sind mehr als die.«
Shan erkannte, daß Ko ihn indirekt fragte, was sie nun tun sollten.
»Gendun würde sich weder verstecken noch jemals etwas aus Angst tun. Für Dolan hingegen ist Angst das einzige Werkzeug«, sagte Shan und betrachtete die beiden Toten. Sie wirkten nicht etwa einschüchternd, sondern verliehen ihm ein seltsames Gefühl der Kraft, als hätten sie ihr Grab aus einem ganz bestimmten Grund öffnen lassen und würden nun etwas an die Lebenden weitergeben.
Als sie auf den Innenhof zurückkehrten, war Ming nicht mehr da.
»Ein Hubschrauber am alten Steinturm hat ihn mitgenommen«, erklärte Jara. »Dieser Lu hat ihn begleitet. Sie sind vor ein paar Minuten abgeflogen.« Dolan und Ming hätten sich gestritten und der Amerikaner habe dabei reichlich Whiskey getrunken, berichtete Jara. Unterdessen sei Tashi, der Spitzel, in einem Helikopter eingetroffen und habe weitere Ausrüstungsgegenstände gebracht. Als Dolan dann mit der Flasche Whiskey im Zelt verschwunden sei, hätten Ming, Tashi und Lu sich leise beraten und ihre Sachen gepackt. »Sie haben kein einziges Funkgerät zurückgelassen.«
Dolan kochte immer noch vor Wut, aber nicht wegen Ming. Sein Zorn schien sich auf die beiden toten Mönche zu richten, als hätten sie ihn irgendwie hintergangen oder getäuscht. Seine Zielstrebigkeit hatte sich derweil zu purem Fanatismus gesteigert; er war nun regelrecht besessen davon, den Schatz des amban zu finden. Die restlichen Hügelleute erhielten jeder ein paar Dollarnoten und wurden weggeschickt. Khan blieb näher beim Lager und drehte mit schußbereitem Gewehr seine Runden durch die Ruinen.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Ko, während sie den gebratenen Reis aßen, den Lokesh zubereitet hatte. »Hier sind zweiPolizisten, einer aus Amerika, der andere aus Peking. Es scheint Dolan überhaupt nicht zu stören.«
Corbett starrte ins Feuer. »Während ihr vorhin die Steine geschleppt habt, hat er mich zu sich gerufen. Er sagte, er habe sich bei meinen Vorgesetzten über mich beschwert, denn ich befände mich offenbar auf einem privaten Rachefeldzug und würde kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehen. Ganz gleich, was ich behaupten würde, er könne mindestens vier Zeugen aufbieten, die das Gegenteil beschwören, und dank seiner guten Kontakte nach Washington sei es unmöglich, ihm etwas anzuhängen. Falls ich ihm allerdings helfen würde, könnte er mich zum nächsten Bezirksleiter des FBI ernennen lassen. Für Yao in Peking gilt das gleiche. Ich schätze, Dolan weiß bereits, daß Yao sich dessen bewußt ist.«
»Die haben nur das eine Gewehr«, drängte Ko. »Ich könnte diesem Khan eins mit der Schaufel überziehen.« Er musterte die anderen schweigend. »Ihr habt gar keinen Plan«,
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