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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hinaus zu dem Sims, von dem aus man Zhoka überblicken konnte.
    Shan sah Liya an. Keiner von ihnen vermochte sich das Blut zu erklären. Und Dawa hatte einen Mann mit einem Nagel durch den Körper gesehen. Nur eine Stunde zuvor hatte Surya einen seltsamen Satz von sich gegeben: Hier mußt du an den Erdboden genagelt werden .
    »Surya ist vorgestern nicht zu dem chorten gekommen«, sagte Shan. »Wo hast du mit ihm gesprochen?« Liya wandte sich ab und sah zu Gendun. »Wer war sonst noch in den Hügeln unterwegs?« ließ Shan nicht locker. »Letzte Nacht bist du auf Fremde gestoßen. Und in der Nacht davor?« Er trat dicht hinter sie. »Jara hat gesagt, es gäbe hier Leute, die wegen eines Worts töten, aber mehr wollte er mir nicht verraten. Wie lautet das Wort?«
    Liya drehte sich um. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepreßt, als fürchte sie sich, etwas zu sagen. Dann ging sie wortlos weg.
    Als Gendun sich auf den Felsen setzte, gesellte Shan sich zu ihm, nahm in einem Meter Entfernung Platz und schaute den westwärts treibenden Wolkenfetzen hinterher. Er ertappte sich dabei, daß er nicht nach Zhoka, sondern an einen Ort weit dahinter blickte, nach Yerpa. Es gab dort in der alten Einsiedeleieine kleine Kammer, in der er es sich mit ein paar Kissen und Decken bequem gemacht und die friedlichsten Monate seines gesamten Lebens zugebracht hatte. Nun fragte er sich, ob er wohl jemals dorthin zurückkehren würde.
    Schweigend saßen sie eine Viertelstunde lang da, während Liya und Lokesh einige der Habseligkeiten einsammelten, die bei der überstürzten Flucht der Hügelleute auf dem Hang liegengeblieben waren. Gendun regte sich nicht, sprach kein Mantra und rührte auch seine mala nicht an, sondern verschränkte lediglich die Hände und legte beide Mittelfinger aneinander. Es war ein mudra namens Diamant des Verstands und diente dazu, möglichst Klarheit zu erlangen und zum Kern der Dinge vorzustoßen. Ein kleiner blauer Schmetterling landete zwischen ihnen auf dem Felsen. Shan sah, daß Genduns Lider zuckten. Die Augen des Lama richteten sich zuerst auf den Schmetterling, dann auf Shan.
    »Du willst mich fragen, was er mir gegeben hat.« Genduns Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. Er reichte Shan ein ausgefranstes Stück Stoff. Surya hatte es von seinem grauen Baumwollhemd abgerissen. »Er hat gesagt, ich soll es zehntausendmal wiederholen, damit er nicht zurückkommt.«
    Shan las die hastig auf den Stoff gekritzelten Worte. Om amtra hum phat . Es war ein Mantra zur Vertreibung jener Wesen, die bei den Tibetern hinderliche Dämonen hießen. »Damit wer nicht zurückkommt?« fragte Shan.
    »Er selbst.« Gendun seufzte. »Surya.« Er sah Shan tief in die Augen. In seinem Blick lag immer noch Trauer und Verwirrung. »Ich kann in den heutigen Geschehnissen kein Gleichgewicht finden«, sagte er. »Etwas hat Suryas Gottheit zermalmt.«
    Shan mußte an die kleine Statue denken, die Atso bei sich getragen hatte. Der Schmetterling krabbelte zur Felskante vor, als wolle er auf die Ruinen hinabstarren.
    Gendun wiederum schien dem Blick des Insekts zu folgen. »Es ist einer der ältesten Tempel von ganz Tibet. Vor seiner Errichtung sind Dämonen ungehindert auf Erden umhergewandert. Die Menschen vergessen das. Sie vergessen all die wichtigen Dinge.«
    »Ich dachte, das Kloster sei vor allem für seine Künstler berühmt gewesen.«
    »Und was tun Künstler? Sie beschwören Gottheiten. Ein Dämon kann nur mit einer Gottheit bekämpft werden. Und unsere Künstler tragen dafür Sorge.«
    Shan blickte auf die Ruinen. Die meisten seiner Gespräche mit dem Lama liefen auf diese Weise ab. Gendun sprach ein paar kurze Sätze, unterbrochen durch lange Phasen des Schweigens, die für den Mönch ohnehin viel wichtiger waren als alle Worte. »Du meinst, falls Surya etwas getötet hat, dann einen Dämon?«
    Gendun schaute wieder zu dem Schmetterling, und als er schließlich sprach, war seine Antwort an das zerbrechliche kleine Geschöpf gerichtet. »Das Töten an sich beinhaltete den Dämon«, sagte er. »Der Akt des Tötens erfordert sowohl Täter als auch Opfer. Er wirkt sich nur unterschiedlich auf sie aus.«
    »Hast du schon immer von der Bedeutung Zhokas gewußt, Rinpoche?« fragte Shan.
    »Nein«, räumte Gendun ein und nickte Shan anerkennend zu. Die Mönche von Yerpa hatten sich jahrzehntelang kaum weiter als einen oder zwei Kilometer von ihrer Einsiedelei entfernt. »Früher hat es in Lhadrung viele gompas

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