Der verlorene Sohn von Tibet
Querulanten um. Für Leute wie Surya gibt es keine Gerichtsverfahren. Er ist ein …« Ihre Stimme erstarb.
Ein was? dachte Shan. Er hatte Surya als einen Mönch und Künstler kennengelernt, einen alten Tibeter mit heiterem, gelassenem Lächeln, wie er es oft auch bei Gendun sah. Surya hingegen hatte sich selbst als Mörder bezeichnet.
»Es war, als würde er die Männer erwarten«, sagte Shan. »Als habe er mit den Soldaten gerechnet.« Surya war zu dem Turm gelaufen, hatte eine Inschrift unter dem alten Gemälde getilgt und sich dann den Soldaten ergeben. Selbst falls sich tatsächlich ein Mord ereignet hatte, konnten die Behörden unter keinen Umständen schon davon erfahren haben.
Liya wischte sich eine Träne von der Wange. »Es ist meine Schuld. Ich habe all den Fremden von der Feier erzählt, und die Armee hat eine Patrouille geschickt. Sie haben einen unserer illegalen Mönche gefunden.«
Doch Shan war sich dessen keinesfalls so sicher. Zwar waren Soldaten hier aufgetaucht, aber sie hatten sowohl Gendun als auch das verbotene Fest und die fliehenden Tibeter ignoriert. Nicht nur Surya schien die Männer erwartet zu haben, auch umgekehrt hatte man speziell nach ihm gesucht. Dem alten Einsiedler war die Außenwelt völlig unbekannt, denn er hatte seit seiner frühen Jugend in Yerpa gelebt und noch nie moderne Maschinen, Soldaten oder Schußwaffen und bis zu Shans letztjähriger Ankunft noch nicht einmal einen Chinesen gesehen. Dennoch hatte er sich von den Soldaten bereitwillig in einen Helikopter verfrachten lassen. »Die haben ihn nicht mitgenommen, weil er ein Mönch ist«, sagte Shan. »Er hat doch überhaupt keine Robe getragen.«
Liya schenkte ihm einen gequälten Blick, als würden seine Worte nur um so mehr zu ihrer Verzweiflung beitragen. Shan musterte sie eine Weile. »Als dieser Hirte sich vorhin mein Kopfgeld verdienen wollte, was hast du da gemeint, als du sagtest, ich stünde unter dem Schutz deines Clans?« Er wußte nicht das geringste über ihre Familie.
»Die Leute in dieser Gegend haben viel gemeinsam«, gab Liya rätselhaft zurück.
Shan mußte daran denken, daß Liya manchmal mit traurigem, sehnsüchtigem Blick zu den fernen Bergen schaute. Ihmwurde klar, wie wenig er sie kannte. »Bist du schon mal da unten gewesen, in den Gewölben von Zhoka?« fragte er.
Doch Liya ging wortlos zu dem alten Turm.
Als er sie einholte, stand sie neben Lokesh und betrachtete die Wandgemälde.
»Ich habe versucht, mit Surya zu reden, als er hergelaufen ist«, erzählte Liya. »Er hatte etwas zu Gendun gesagt und ihm etwas gegeben, aber mit mir wollte er nicht sprechen. Ich habe ihn immer wieder gebeten, doch umzukehren und an all die Menschen zu denken, die ihn jetzt brauchen.« Liyas Stimme war leise und zitterte, und man hörte ihr an, daß sie mit den Tränen kämpfte. Ihr Blick war auf den Schatten gerichtet, wo nun Gendun kniete und das Bild studierte. »Am Ende ist er stehengeblieben, hat mich an den Schultern gepackt und geschüttelt. Er sagte, wenn wir Zhoka retten wollten, müßten wir dort Zuflucht suchen.«
Shan sah Liya an. Ihr Verhalten legte nahe, daß sie und Surya sich gut kannten, und anscheinend gab es außerhalb der Einsiedelei noch andere Leute, die Surya brauchten. Shan schaute zu den Überresten des alten gompa . »In Zhoka gibt es nur noch Ruinen.«
Liya folgte seinem Blick. »Nicht für ihn.«
»Nicht für jene, die Zuflucht suchen«, sagte Lokesh hinter ihnen. Als Shan sich zu seinem alten Freund umdrehte, begriff er, was Lokesh meinte. Surya hatte nicht geraten, ein Versteck aufzusuchen, sondern sich auf die heilige Zuflucht des buddhistischen Rituals bezogen, den Pfad der Erleuchtung.
»Surya hat mir von einem Ort der Macht erzählt, den er gefunden hatte, gelegen hoch auf einem Berggrat und einst benutzt von Zhoka«, sagte Lokesh plötzlich. »Das hier muß dieser Ort sein.« Er berührte den Stein neben dem niedrigen Eingang des Turms und begutachtete angestrengt das Muster des Flechtenbewuchses. Shan wußte, daß er nach den religiösen Symbolen Ausschau hielt, die sich bisweilen in den Formen der Natur wiederfanden. »Surya hat gesagt, er habe stets nach vernachlässigten Stellen wie dieser gesucht, als sei es seine Aufgabe, sie wiederherzustellen.«
Shan ließ den Blick abermals über die Landschaft schweifen und erkannte, daß Lokesh recht hatte. Der kleine, aus natürlichem Fels gebildete Raum im unteren Geschoß des Turms war nach Norden hin abgeschirmt und
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