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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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öffnete sich gen Süden, so daß man bis weit zu den schneebedeckten Gipfeln am Horizont schauen konnte. Dreißig Meter unterhalb wuchs direkt an der Quelle, die dort dem Berghang entsprang, ein knorriger, aber kräftiger Wacholderbaum. Lokesh beäugte erneut die Flechte und zog mit dem Finger ein Muster nach, das wie ein Rad aussah. »Er sagte, es müßten Gottheiten beschworen werden.«
    »In einer Kammer unter den Ruinen ist jemand ums Leben gekommen.« Shan beschrieb, was er in den Gewölben von Zhoka gefunden hatte.
    »Der kleine Freskenraum«, flüsterte Liya.
    »Du kennst ihn?« fragte Shan.
    Liya schloß wie in stummem Schmerz die Augen. »Jemand ist gestorben«, sagte sie. »Surya dachte, er sei dafür verantwortlich. Er hat seine Robe verbrannt.« Sie sprach langsam, als bemühe sie sich, unbedingt die korrekte Reihenfolge der Geschehnisse wiederzugeben. »Dann ist er hierher zu dem alten Gemälde gelaufen.«
    »Weil es ihm nicht mehr darauf ankam, sich selbst zu schützen«, fügte Shan genauso bedächtig an. »Es ging ihm nur noch darum, Zhoka zu retten.«
    Lokesh blickte in die dunkle Kammer. »Dies ist ein Ort, an dem man den Göttern Botschaften schicken kann. Ich glaube, der Surya, der ein Mönchsgewand getragen hat, wäre hergekommen, falls er geglaubt hätte, seine Freunde würden sich in Gefahr befinden«, sagte er verunsichert. Keiner von ihnen kannte den Surya, der die Robe abgelegt hatte.
    Shan ging zu Gendun, der das alte Gemälde betrachtete und im Abstand von wenigen Zentimetern mit der Hand darüber strich, als könne er auf diese Weise die Bedeutung erschließen.
    »Das Bild kommt mir nicht bekannt vor«, sagte Shan. »Es ist Tara, aber in dieser Verkörperung habe ich sie noch nie gesehen.«
    »Sogar in früheren Zeiten trat sie nur selten so auf«, erklärte Gendun. »Es handelt sich um eine der acht Erscheinungsformen der Heiligen Mutter, die vor Ängsten und Dämonen schützen. Dies ist Kudri Padra. Surya hat versucht, sie zu erwecken.«
    Shan sah ihn fragend an.
    Lokesh trat von einer Seite des Gemäldes auf die andere und starrte es an, als würde er es zum erstenmal richtig sehen. Dann nickte er. »Das ist Tara die Diebesfängerin«, stellte er hörbar überrascht fest.
    Auch Gendun nickte ruhig, ohne die Augen von dem Bild abzuwenden.
    »Alles ist schiefgegangen«, warf Liya verbittert ein. »Eine Katastrophe. Es wird Jahre dauern, bis wir es von neuem versuchen können.«
    »Denk an das kleine Mädchen«, rief Shan ihr ins Gedächtnis und beobachtete weiterhin Gendun. Der Lama hatte sich wie bei einer Meditation in sich gekehrt, aber Shan wußte, daß er dabei diesmal keinen Ort heiterer Gelassenheit aufsuchte. »Sie hat gelernt, wie man mit Mehl feiert und wie man einem Kehlgesang lauscht.«
    Liya verzog das Gesicht. »Sie hat erfahren, wie man vor den Soldaten wegläuft. Und nun haben wir einen unserer Kehlsänger verloren. Ist dir klar, wie wenige der Mönche die traditionelle Art des Gesangs noch bei den alten Lamas gelernt haben? Sie sind fast ausgestorben. Heutzutage gibt es in Tibet mehr Schneeleoparden als solche Männer. Wenn die Soldaten fertig sind, werden sie alle verschwunden sein.«
    »Das Mädchen hat nach den Seelen gefragt und wurde als Antwort in Schrecken versetzt«, sagte Lokesh. »Sie ist wie eine verängstigte Antilope geflohen.« Er schaute nach Süden zu den endlosen Bergketten, die sich Gipfel um pfadlosen Gipfel bis zum Horizont erstreckten. Dann wandte er sich wieder Shan zu. »Er hat nicht nur mit Tara gesprochen. Einen Moment lang habe ich ein Gebet gehört, in dem er die Hüter um Vergebung bat.«
    Shan mußte unwillkürlich an den Raum mit der Blutlacheund an die neunköpfige Gottheit denken, deren sämtliche Augen fehlten. Surya hatte um Verzeihung ersucht, als träfe ihn die Schuld für diese Blendung.
    »Surya ist nicht zu einem Mord fähig«, sagte Liya, und es klang wie ein Wimmern. »Noch vor zwei Tagen habe ich mit ihm gesprochen, und da hat er für meine Sicherheit gebetet, weil ich nachts auf meinem Pferd reiten würde. Vielleicht ist er in die Tunnel gestiegen und hat sich den Kopf gestoßen. Es war alles nur Einbildung … aber woher stammt dann bloß das ganze Blut? Es kann nicht sein, er ist doch unser Mönch.«
    Liyas eigentümlicher Monolog hatte Gendun aus der Versunkenheit gerissen. Er hob den Kopf und sah die anderen mit einer Mischung aus Trauer, Qual und Verwirrung an, die Shan noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Dann ging Gendun

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