Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
gegeben, heute viele Ruinen. Uns war nicht klar, wie sehr Zhoka sich von den anderen Ruinen unterschied. Das Geheimnis wurde vor dem Rest der Welt bewahrt, und das aus gutem Grund, aber Surya hat in einer Höhle hoch in den Bergen ein altes Buch gefunden, eingewickelt in ein Stück Fell, als würde es Winterschlaf halten. Er war ganz aufgeregt. Der Text schilderte, was an diesem Ort geschehen war.« Er beugte sich zu dem Schmetterling hinunter. »Zhoka hat die Erde erbeben lassen«, flüsterte er.
    Shan mußte sich regelrecht zwingen, dem alten Lama nicht prüfend ins Gesicht zu starren. Gendun hielt Worte für trügerisch, weil sie mitunter zwar dienlich, mindestens ebensooft aber unzureichend waren. Nie wäre es ihm eingefallen, die vielschichtige Essenz eines Gedankens, einer Person oder eines Ortes auf bloße Worte zu reduzieren, denn es war unmöglich, auf diese Weise eine umfassende Wahrheit auszudrücken.Dennoch hatte Gendun etwas angedeutet, das Shan bisher unklar gewesen war: Die Einsiedler hatten sich nicht für Zhoka entschieden, weil es ein günstig gelegener Ort war, um die Hügelleute zu treffen. Sogar die Tatsache, daß es sich um die Ruine eines gompa handelte, spielte bestenfalls eine untergeordnete Rolle.
    Gendun hielt einen ausgestreckten Finger vor den Felsen, und der Schmetterling krabbelte darauf. »Die kleine Dawa hat deine Tasche in die Schlucht geworfen«, sagte der Lama seufzend. »Es tut mir leid um deine Schafgarbenstengel. Sie haben schon deinem Vater gehört.«
    »Ich bemühe mich, nicht an weltlichen Besitztümern zu hängen«, sagte Shan angespannt.
    Gendun lächelte bekümmert. »Für dich waren sie nicht weltlich. Sie enthielten die Lebensfunken deines Vaters, Großvaters und weiterer Vorväter. Sie haben in dir die Geister deiner Ahnen erweckt.«
    Einen Moment lang schloß sich etwas fest um Shans Herz. Mehr als einmal hatte er Gendun und Lokesh davon erzählt, wie er beim Gebrauch der lackierten Stengel bisweilen die Anwesenheit seines Vaters zu spüren glaubte und sogar den Ingwer zu riechen vermeinte, den dieser oft bei sich getragen hatte. »Bloß ein paar alte Stengel«, sagte Shan leise.
    Gendun flüsterte dem Schmetterling etwas zu, und das Insekt flog fort in Richtung Zhoka, als habe es einen Auftrag erhalten. Sie schauten ihm hinterher, bis es in der Ferne verschwand. Dann stand Shan auf und streckte Gendun einen Arm entgegen. »Eine Himmelsmaschine«, sagte der Lama, als er sich aufhelfen ließ. »Eine dieser Himmelsmaschinen hat ihn geholt.« Er hob die Hand. Seine Finger öffneten und schlossen sich langsam, als würde er nach etwas greifen, das für alle anderen unsichtbar blieb. »Letzten Frühling habe ich oben im Norden mit einer Schäferin gesprochen, die auf diese Weise ihren Mann verloren hatte. Sie kletterte jeden Tag auf einen Hügel, um dort zu beten und den Himmel abzusuchen, denn, so sagte sie, ihr Mann könne jederzeit aus einer Wolke steigen und zu ihr zurückkehren.« Shan sah den Lama an und war für eine Sekundevor Entsetzen wie gelähmt. Über Genduns Wange lief eine Träne. »Surya.« Er sprach den Namen wie ein Gebet.
    Shan hörte ein leises Keuchen und drehte sich um. Hinter ihnen saß Lokesh und war kreidebleich. Auch er hatte die Träne bemerkt und verfolgte nun mit einer seltsamen Mischung aus Verzweiflung und Ehrfurcht, wie sie Genduns Kinn erreichte und dort hängenblieb.
    »Surya und ich haben mehr als vierzig Jahre gemeinsam gebetet«, sagte Gendun. »Als wir beide noch Novizen gewesen sind, gehörte es zu unseren Aufgaben, zwei Stunden vor Tagesanbruch aufzustehen und überall im Kloster die Lampen zu entzünden. Wir haben diese Gewohnheit all die Jahre beibehalten und nie den nachfolgenden Novizen übertragen. Jetzt soll ich dafür beten, daß er nicht zu uns zurückkehrt. Vor ihm hatte ich noch nie jemanden getroffen, der einfach ein Stück Stoff und Farbe nehmen konnte und …« Gendun schaute zurück zu dem Turm und dessen kraftvollen Gemälden und schloß kurz die Augen. »In einem dreihundert Jahre alten Text, den Surya gefunden hat, schreibt ein Lama, die Künstler von Zhoka würden die Feuer des Geistes entfachen.«
    »Womöglich kommen sie zurück«, warf eine besorgte Stimme hinter ihnen ein. Dort stand Liya und suchte die Hügel ein weiteres Mal mit dem Fernglas ab. »Die Soldaten kennen diesen Ort nun.«
    Aber sie hatten nicht erst heute davon erfahren, wußte Shan. Sie waren hierher zum Steinturm gekommen und nicht etwa nach

Weitere Kostenlose Bücher