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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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etwa hundert Meter und hörte dann ein Lamm blöken. Unterhalb zeichneten sich in einer flachen Senke die Umrisse eines Hauses und zweier kleinerer Gebäude ab. An einer der Wände war ein Heuhaufen aufgeschichtet.
    Shan wagte sich näher heran und war noch ungefähr dreißig Meter entfernt, als ein Hund zu bellen anfing. Niemand kam nach draußen, obwohl Shan durch die spaltbreit geöffnete Haustür einen schwachen Lichtschein erkennen konnte, der vermutlich von einer einzelnen Butterlampe stammte. Das Lamm blökte erneut, und ein zweites Tier schloß sich ihm an. Der Hund knurrte nun, blieb aber im Dunkeln verborgen und zeigte sich nicht. Shan wich langsam zurück und schlug die ursprüngliche Richtung nach Lhadrung ein.
    Er näherte sich der Stadt im Laufschritt und kam schnell voran. Dabei hielt er sich parallel zu dem unbefestigten Weg, der aus den Bergen ins Tal führte, und blieb alle paar Minuten im Schutz des Dickichts stehen, um sorgfältig Ausschau zu halten. Es ließ sich weder ein Helikopter noch eine der Staubwolkenausmachen, die auf ein Patrouillenfahrzeug der Armee hingedeutet hätten. Am Stadtrand mischte Shan sich unter die Tibeter, die Gemüse und andere Dinge, die sie angebaut und geerntet hatten, zum Verkauf brachten, gelangte in ihrer Mitte bis zum Marktplatz und bog dann in die umliegenden Gassen ab.
    Aus Erzählungen kannte Shan das Lhadrung, das noch vor fünfzig Jahren existiert hatte, eine blühende tibetische Gemeinde aus schlichten Häusern, jedes mit eigenem Hof und eigenem kleinen Schrein, angeordnet rund um ein einfaches gompa , das die Bevölkerung des zentralen Tals betreute. Als die Volksbefreiungsarmee Lhadrung erreichte, lag ein blutiger, viele Monate währender Guerillakampf hinter ihr, und bei den Soldaten hatte sich ungeheure Rachsucht aufgestaut. Die Einwohner rechneten damit, daß man, wie überall in Tibet, das Kloster dem Erdboden gleichmachen würde, doch die Armee legte darüber hinaus fast den gesamten Ort in Schutt und Asche, erst mit Luftangriffen, dann mit Planierraupen. Die chinesische Stadt, die seitdem hier errichtet worden war, bestand aus tristen grauen Häuserreihen, über denen sich der viergeschossige Bau der Bezirksverwaltung erhob.
    Shan hatte das Behördengebäude stets sorgsam gemieden und seine seltenen Stadtbesuche auf den Markt im Ostteil Lhadrungs beschränkt. Seit er vor anderthalb Jahren völlig überraschend als freier Mann vor die Tür dieses Hauses getreten war, hatte dessen Erscheinungsbild sich merklich verändert. Die Fassade – und nur die Fassade – war leuchtend weiß gestrichen worden und schien das schmutzige Grau der Seitenwände nur um so deutlicher hervorzuheben. Niemand hatte sich bemüht, die Farbspritzer von den Scheiben zu entfernen. In den Fenstern im Erdgeschoß rund um die stählerne Eingangstür hingen Plakate, deren Motive auf allen öffentlichen Plätzen Chinas ein vertrauter Anblick waren. Eines zeigte strahlende chinesische Mädchen, die an endlosen Baumwollfeldern vorbeifuhren. Sie trugen bunte Bänder im Haar, und von jedem ihrer Traktoren wehte die rote Flagge der Volksrepublik. Auf einem anderen Plakat, das dem Gedenken an Helden frühererZeiten galt, ließ eine alte Frau mit geschultertem Gewehr den Blick über eine Bergkette schweifen. Vor dem Eingang des Gebäudes hatte man einen Betonsockel mit einer Mao-Büste aus Marmorsplittern errichtet, die den Großen Vorsitzenden als fröhlichen jungen Mann darstellte, wie es in Parteikreisen mittlerweile populär war. Links und rechts der Türflügel standen zwei Bäume, offenbar Ginkgos. Beide waren bereits vertrocknet und wirkten wie ein Symbol für Pekings Bemühungen, die chinesische Kultur an Orte zu verpflanzen, an denen sie keine Wurzeln schlagen konnte. Neben einem der toten Bäume saßen drei Bettler vor der Hauswand. Shan ging am Rand des kleinen Vorplatzes entlang und musterte die zerlumpten Gestalten. Sie hätten gar nicht hier sein dürfen, es war ein Ding der Unmöglichkeit. Oberst Tan duldete keine Bettler, erst recht nicht mitten vor dem Sitz der Bezirksverwaltung.
    Shan zog sich in den dunklen Eingang eines geschlossenen Restaurants zurück und verschaffte sich mißtrauisch einen besseren Überblick. In der Gasse neben dem Gebäude standen zwei Wagen geparkt: eine mindestens zwanzig Jahre alte Limousine, Modell Rote Fahne, bei der es sich um Oberst Tans Dienstfahrzeug zu handeln schien, und davor ein ziemlich neues silbernes Auto aus japanischer

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