Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
Shanvoller Qual, »falls ich es auch nur geahnt hätte, wäre ich im Gefängnis geblieben.« Er fühlte sich verantwortlich. Wenn er die Augen schloß, sah er einen schicksalhaften Pfad vor sich, eine lange verschlossene Tür, die durch seine Ankunft in Yerpa geöffnet worden war. Shan hatte Gendun mit der Außenwelt bekannt gemacht, hatte ihm zu Reisen ins moderne Tibet verholfen und damit ihn – und durch ihn Surya – in die Reichweite der Soldaten und ihrer Straflager gebracht.
    Gendun zog die Schnürsenkel seiner ausgetretenen Arbeitsstiefel fest. »Falls ich all dies gewußt hätte«, sagte der Lama mit ruhigem Lächeln, »wäre ich schon vor Jahren hergekommen.« Er richtete sich auf und machte sich auf den Weg nach Zhoka.
    »Bitte, Shan, man wird dich verhaften«, sagte Liya warnend. »Laß es sein. Falls du in die Stadt gehst, werden wir dich nie wiedersehen, das weiß ich.« Als Shan nur wortlos ihren inständigen Blick erwiderte, seufzte sie und eilte dann dem Lama hinterher.
    Während Shan nun allein auf dem windumtosten Grat stand und vergeblich versuchte, die Vorfälle der letzten Stunden zu ergründen, schlossen seine Finger sich unvermittelt um die blutverschmierte Scheibe, die er in dem unterirdischen Raum gefunden hatte. Er holte sie aus der Tasche, wischte sie mit Gras ab und hielt sie im letzten Tageslicht hoch. Sie war schwer, als bestünde sie aus Metall, besaß jedoch eine Beschichtung aus rotem Kunststoff. Ihr verdickter Rand war in gleichmäßigem Abstand mit grünen Streifen versehen, und in ihrer Mitte befand sich das Abbild eines grimmigen gelben Auges. Shan starrte sehr lange darauf, bis die englischen Worte rund um das Auge für ihn endlich einen Sinn ergaben. Lone Wolf Casino. Reno, Nevada.

Kapitel Drei
    Die Nächte in Tibet stellten Seelen auf eine harte Probe. Shan hatte mit angesehen, wie stattliche junge Männer in den dunklen endlosen Himmel starrten und plötzlich in Tränen ausbrachen. Lamas prüften Novizen, indem sie sie sechs Stunden unter den Sternen sitzen ließen, oftmals in der Nähe der Totenplätze, wo Leichen ihr Himmelsbegräbnis erfuhren. Nur hier, im höchstgelegenen aller Länder dieser Erde, war der Himmel dermaßen schwarz, standen die Sterne so dicht und wurde die Zerbrechlichkeit des Menschen jede Nacht aufs neue unwiderlegbar deutlich.
    Damals im Straflager hatten Shans Mithäftlinge das Blechdach ihrer Baracke an einer Ecke aufgebogen, eine Pritsche unter das Loch geschoben und dann abwechselnd dort gelegen und zu den Sternen aufgeblickt. Ein verbitterter junger Tibeter, ein Drogendealer aus Lhasa, hatte sich zunächst über die alten Männer lustig gemacht und gesagt, er könne ja verstehen, daß jemand Prügelstrafen und Haftverschärfungen riskierte, um den Lagerzaun zu überwinden, aber doch nicht, um in Gedanken zu den Sternen zu fliehen. Nach ein paar Monaten hatte auch er es jedesmal kaum noch erwarten können, sich auf die besagte Pritsche zu legen. Für Shan waren die Sterne sogar heute noch gleichbedeutend mit der Freiheit, und wenn ihn etwas bedrückte, saß er manchmal stundenlang da und beobachtete sie, um mit ihnen zu sprechen oder darauf zu hoffen, daß er dort oben vielleicht die Seelen seiner toten Eltern aufblinken sah.
    Heute nacht jedoch machte der Himmel ihm schwer zu schaffen. Mehr als einmal glaubte er von oben Schreie zu vernehmen, und alle paar Minuten lief ihm ein Schauer über den Rücken. Die Dunkelheit schien auf einmal über eine neue Seitezu verfügen, als wäre die schreckliche Schwärze der unterirdischen Klostergänge den Tiefen der Erde entstiegen und würde ihn heimsuchen.
    Um Mitternacht zogen Wolken auf, und es wurde so dunkel, daß Shan nicht wagte, den trügerischen Pfaden weiter nach unten zu folgen. Er lehnte sich an einen Felsen und fiel in unruhigen Schlaf. Am Ende erwachte er zitternd aus einem Alptraum, in dem Gendun blutend und mit zerschmetterten Gliedern in den Tunneln von Zhoka gelegen hatte.
    Als es wieder aufklarte, stand ein Halbmond am Himmel, und Shan fand sich mühelos zurecht. Nachdem er mehrere steile Grate überwunden hatte, erreichte er schließlich den letzten Bergkamm, dessen Flanke sich bis hinab ins Tal erstreckte. Im Osten konnte man die ersten Vorboten der Dämmerung erahnen, und einige Kilometer voraus schimmerten die orangefarbenen Straßenlaternen von Lhadrung. Shan wollte soeben weiterziehen, als ihm der Geruch von verbranntem Holz in die Nase stieg.
    Vorsichtig folgte er der Kammlinie

Weitere Kostenlose Bücher