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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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seinem Gewand aus Sackleinen am dichtesten neben dem Eingang saß. Dann eilte die Westlerin zurück ins Gebäude.
    Im selben Moment flog ein Helikopter in niedriger Höhe über das Stadtzentrum hinweg und hielt mit hoher Geschwindigkeit auf das Gefangenenlager im Norden des Tals zu. Gleich darauf war die Maschine wieder verschwunden, doch sie schien auf dem Platz eine kalte, furchtsame Stille zu hinterlassen. Als Shan zu den Bettlern sah, hielt nun der mittlere von ihnen, der Mann mit der Decke, den Apfel.
    Shan starrte auf den leeren Eingang, dann zu den Bettlern. Für ihn bestand kein Zweifel daran, daß die beiden Han-Chinesen hohe Funktionäre waren. Sie hatten die Bettler gesehen und nichts unternommen, sondern sich einzig für das tibetischeGemälde interessiert und vielleicht sogar deshalb gestritten. Dann war diese Frau aufgetaucht und hatte die Männer beschwichtigen können. Waren sie nur wegen der Westlerin nicht gegen die Bettler vorgegangen? Shan wartete noch weitere zehn Minuten ab, ging dann am Rand des Platzes entlang zu den Bettlern und ließ das einzige Geldstück, das er besaß, in die Schale der alten Frau fallen. Sie nickte dankbar. Die beiden anderen Gestalten, deren Gesichter weiterhin verhüllt blieben, schienen keine Notiz davon zu nehmen, aber als Shan an ihnen vorbeiging, streckte der Mann mit der Decke ein Bein aus, als wolle er ihn ins Straucheln bringen. Shan stieg vorsichtig darüber hinweg, hockte sich neben den Mann mit der Leinenkapuze und schaute ihm direkt in die Augen.
    Es verschlug Shan fast den Atem. »Surya!«
    Der Mönch starrte ihn mit glasigem Blick teilnahmslos an. Eine Seite seines Gesichts war dunkel angeschwollen und seine rechte Hand mit einem blutigen Stoffetzen umwickelt. Shan berührte ihn an der Wange. Surya stöhnte auf und wich zurück.
    »Wir dachten … Was ist geschehen?« stammelte Shan. »Man hat dich in diesem Hubschrauber verschleppt …«
    Surya blickte stumm auf seine verbundene Hand. Unter dem Sackleinen trug er noch immer sein graues Baumwollhemd, das mittlerweile an mehreren Stellen zerrissen war.
    Shan zog ihn am Arm. »Bitte. Gendun glaubt …«
    Surya riß sich los.
    Shan stand auf, schaute sich suchend um und grübelte, wohin wohl die Patrouille verschwunden sein mochte. Dann bückte er sich und zerrte erneut an Suryas Arm. »Die anderen halten dich für tot.«
    »Surya ist tot«, sagte der Mönch. »Auch er hat sein Leben verloren.«
    Shan blickte zur Tür und die Straße hinunter. Falls man auf ihn tatsächlich eine Belohnung ausgesetzt hatte, drohte nicht nur von den Soldaten, sondern von jedem Passanten Gefahr. »Du darfst die anderen nicht allein lassen. Du bist ein Teil von ihnen.«
    Ein streunender Hund kam angelaufen und legte sich nebenSurya. »Sie allein zu lassen war die einzige Ehre, die er ihnen noch erweisen konnte«, sagte der alte Mann. »Das ist sogar der niederen Kreatur bewußt, in die er sich verwandelt hat.« Seine Stimme hatte sich verändert. Sie klang schwach, heiser und dumpf und nicht mehr wie die Stimme des fröhlichen Kehlsängers, die Shan noch am Vortag gehört hatte. Suryas Kopf senkte sich, und sein Unterkiefer sackte herab.
    »Ich bin in den Gängen unter dem gompa gewesen«, flüsterte Shan. »Da gab es keine Leiche, sondern nur Blut. Hilf mir zu verstehen, was dort passiert ist.«
    Surya verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Er wußte, was er getan hat. Er hat danach das schwarze Ding in seinem Herzen gesehen. Falls du etwas daran zu ändern versuchst, Chinese, wäre auch das eine Schande.«
    Chinese. Das Wort versetzte Shan einen Stich. Er und Surya waren Freunde gewesen, hatten sich während der Arbeit in Yerpa viele Geschichten aus ihrem Leben anvertraut und oft zusammen gelacht. Nun aber war Shan für ihn lediglich irgendein Chinese.
    »Falls du bleibst, werden die Soldaten kommen und dich holen … schon wieder«, ermahnte er den Alten unbeholfen. Er war vollkommen verblüfft, daß man Surya freigelassen hatte. »Was wollten die bei dem Verhör von dir wissen? Wer ist die Frau mit den roten Haaren?«
    »Sie werden sich bald mit der Wahrheit abfinden«, sagte Surya mit seiner krächzenden neuen Stimme. »Sie werden ihn so behandeln, wie ein Mörder es verdient. Unterdessen wird er so tun, als sei er am Leben.«
    Shan unterdrückte ein Schaudern und berührte Suryas verbundene Hand. »Laß mich deine Wunde säubern.«
    Aber Surya stieß ihn weg und kroch auf allen vieren an dem toten Baum vorbei in den

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