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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Fabrikation. Shan schaute zurück zu den Bettlern. Zwei von ihnen – eine Gestalt, deren Gesicht durch eine Kapuze aus Sackleinen verhüllt wurde, und der Mann neben ihr, der sich in eine verschlissene Decke gehüllt hatte – starrten auf den trockenen, rissigen Boden zu ihren Füßen. Die dritte Person, eine alte Frau, deren linkes Auge milchigweiß war, klopfte mit einem Stock gegen eine traditionelle Bettelschale aus Metall. An einer Seite des Platzes standen mehrere Tibeter hinter einem Lastwagen und betrachteten die drei unentschlossen. Sie waren den Anblick von Bettlern nicht gewohnt. Nach buddhistischer Lehre wurde von ihnen ein Almosen erwartet, aber das verstieß gegen die eindeutigen Weisungen der Behörden.
    Shan beobachtete das Geschehen mit zunehmendem Unbehagen. Es war noch früh am Morgen. Im Verwaltungsgebäude blieb alles ruhig, als sei überhaupt niemand anwesend. Shanblickte zur obersten Etage, in der die leitenden Beamten arbeiteten. Hinter mehreren der Bürofenster waren die Vorhänge zugezogen. Nichts regte sich.
    Einen Block entfernt tauchten zwei in Grau uniformierte Männer auf, von deren Schultern halbautomatische Gewehre hingen. Noch eine neue Besonderheit im Straßenbild Lhadrungs. Shan drückte sich tiefer in die Schatten und hielt nach einem möglichen Versteck Ausschau, aber die Tür des Restaurants war verriegelt. Kurz vor dem Platz bogen die Soldaten in eine Seitenstraße ab. Gleich darauf ging einer der Tibeter vom Lastwagen zögernd zu der alten Frau und kniete sich neben sie. Dann redete er leise und nachdrücklich auf sie ein, deutete auf eine Straße in entgegengesetzter Richtung der Patrouille und wollte der Alten auf die Beine helfen.
    Plötzlich traten zwei Männer aus dem Eingang des Gebäudes. Der Tibeter neben der Frau erstarrte, wurde leichenblaß, stand dann auf, wandte sich ab und ging steifbeinig davon.
    Die Männer auf den Stufen waren Han-Chinesen und wirkten wie ranghohe Funktionäre. Der eine, ein hochgewachsener, adretter Mann Mitte Dreißig mit ordentlich gebügelter schwarzer Hose, blauem Anzughemd und roter Krawatte, sprach sehr schnell, zog derweil eine große Papierrolle aus einer Kartentasche und breitete sie in einem von der Sonne beschienenen Fleck auf der niedrigen Mauer unterhalb der Mao-Büste aus. Der kleinere und etwa zehn Jahre ältere Mann trug ein weißes Hemd ohne Krawatte und darüber eine braune Weste. Sein ungekämmtes, leicht ergrautes Haar war lang und hing ihm bis über die Ohren. Shan sah, wie er einen silbernen Kugelschreiber zückte, damit auf einen Punkt der Karte wies und offenbar eine Frage stellte. Nein, das war gar keine Landkarte, erkannte Shan, als der jüngere Mann sie von der Mauer nahm. Es war ein thangka , ein traditionelles tibetisches Stoffgemälde. Nach den verblichenen Farben zu schließen, mußte es sich um ein sehr altes Exemplar handeln.
    Der ältere Mann machte einen eher ungehaltenen Eindruck und schien seinen Begleiter soeben unterbrechen zu wollen, als eine Westlerin mit lockigem rotbraunem Haar aus dem Hauskam und sich zu ihnen gesellte. Sie fing an zu sprechen und deutete dabei mit lebhaften Gesten mehrmals in Richtung des thangka , als würde sie etwas erläutern. Dann nahm sie das Gemälde, drehte es um und zeigte auf eine Stelle an der Rückseite. Das ließ die Männer verstummen, und beide nickten unschlüssig. Shan wagte sich einen Schritt vor, um die Frau besser erkennen zu können. Sie war Mitte Dreißig und trug blaue Jeans mit weißer Bluse und einer modischen, kurzen braunen Jacke. Etwas hing an einer schwarzen Kordel um ihren Hals. Eine Lupe.
    Der größere Mann sagte kurz etwas, zuckte die Achseln, rollte das Bild zusammen, verstaute es in der Tasche und ging wieder hinein, dicht gefolgt von seinem älteren Begleiter. Die Frau blieb zurück, legte Mao eine Hand auf die Schulter, beugte sich über den Rand der Treppe vor und schaute zu den Bettlern. Sie sah besorgt aus. Dann sagte sie etwas, während sie mit einem Finger eine Locke ihres schulterlangen Haars einrollte. Shan konnte die Worte nicht hören, aber der Mann in der Mitte, der mit der Decke, blickte auf und schien sie zu verstehen. Hatte die Frau tibetisch gesprochen? Das Gesicht des Mannes lag im Schatten, doch er schüttelte als Antwort offenbar den Kopf. Die Frau schaute kurz zur Tür, lief die Stufen hinunter und griff in ihre Jackentasche. Sie zog einen Apfel daraus hervor und ließ ihn in den Schoß des ersten Bettlers fallen, der in

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