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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Schatten der Treppe.
    Shan zog sich auf die andere Seite des Platzes zurück. Als er wieder im Eingang des Restaurants stand, wurde er fast von seinen Gefühlen übermannt. Noch vor vierundzwanzig Stunden hatte Surya ein neues Leben in Zhoka beginnen und die Welt verändern wollen. Nun hingegen hatte die Welt den Spieß umgedrehtund statt dessen Surya verändert. Angesichts des entstellten, ausgehöhlten Geschöpfes, das aus Surya geworden war, empfand Shan nicht nur Schuld und Verwirrung, sondern einen Moment lang sogar eine gewisse Abscheu.
    Er wartete, bis auf der Straße der morgendliche Berufsverkehr einsetzte: verbeulte Laster, kleine alte Pferde, die hölzerne Karren zogen, und ein Greis mit dünnem Bart, der einen Handwagen voller Gemüse vor sich herschob. Der Wind aus den Bergen vermischte die Gerüche von Zwiebeln und Dung, gerösteter Gerste und Diesel. Als Shan schließlich wieder auf den Gehweg hinaustrat, hielt er sich im Schatten und ging den Block entlang, um auf die Rückseite des Verwaltungsgebäudes zu gelangen. Letztlich umrundete er den Bau einmal vollständig, warf verstohlene Blicke auf die oberen Fenster und fand sich bei den geparkten Fahrzeugen wieder. Im Reifenprofil des silbernen Wagens steckten rote Kiesel, die nicht von den Straßen Lhadrungs stammten. Shan beugte sich tiefer hinab. Die Steinchen kamen ihm irgendwie bekannt vor.
    Da packte ihn plötzlich eine starke Hand am Oberarm und zerrte ihn in einen Eingang auf der anderen Seite der Gasse. Es gelang ihm nicht, sich loszureißen. Eine Tür fiel hinter ihm ins Schloß, und der Unbekannte gab ihn frei. Es war stockdunkel. Shan hockte sich hin und hob die Hände schützend über den Kopf. Eine einzelne nackte Glühbirne flackerte auf und erhellte einen kleinen Lagerraum, in dessen Regalen sich Reis- und Gerstensäcke, Körbe mit Gemüse und Kanister voller Speiseöl stapelten. Ein Mann mit kurz geschorenem grauem Haar und scharf geschnittenem Gesicht rückte einen Stuhl von dem einfachen Holztisch in der Mitte des Raums ab und stellte einen seiner blank polierten Stiefel darauf.
    »Ich dachte, du wärst tot«, knurrte der Mann. »Oder wenigstens in irgendeinem Bergloch verschwunden und schlau genug, dich nicht wieder blicken zu lassen.« Er trug die schmucklose, akkurat gebügelte Uniform eines Armeeoffiziers. Sie wies keinerlei Abzeichen auf, und nur die Anzahl der Taschen auf dem Waffenrock ließ seinen hohen Rang erkennen.
    Shan atmete tief durch und erwiderte den bohrenden Blickdes Mannes. »Ich wäre auch lieber woanders, Oberst«, sagte er mit zittriger Stimme. »Aber hier sind wir nun.«
    Oberst Tan war schon seit vielen Jahren der Leiter dieses Bezirks. Shan wußte, daß er längst alle Hoffnung aufgegeben hatte, jemals befördert und aus dieser entlegenen und verarmten Ecke des Landes versetzt zu werden, was nur um so mehr zu seinem Zorn und seinen brutalen Neigungen beitrug. Er biß die Zähne zusammen und wunderte sich, wie wütend er auf Tans plötzliches Auftauchen reagierte. Gleichzeitig war ihm absolut klar, daß der Oberst ihn mit einem einzigen Befehl zurück ins Arbeitslager schicken konnte.
    »Sie haben neue Mitarbeiter«, stellte Shan fest. Vor anderthalb Jahren hatte der Oberst ihn inoffiziell in die Freiheit entlassen. Shan war damals der Nachweis gelungen, daß nicht etwa ein der Tat beschuldigter Mönch den Ankläger des Ortes ermordet hatte, sondern eine Verbrecherbande, deren Mitglieder hohe Beamte waren.
    »Das sind bloß Besucher. Man bietet mir derzeit immer öfter Unterstützung an. Niemand hatte je von Lhadrung gehört, bis ich den Fehler beging, dich um Hilfe zu bitten«, sagte Tan mit beißendem Spott.
    »Sie meinen, niemand wußte, daß drei Ihrer wichtigsten Dienststellen in Wahrheit von Drogenschmugglern und Mördern geleitet wurden.«
    Tan zog einen Mundwinkel hoch. Es war eine seiner charakteristischen Mienen, halb Grinsen, halb Zähnefletschen. »Man hat mir zu verstehen gegeben, daß jemand mit weniger tadellosem Ruf wohl unehrenhaft entlassen worden wäre.«
    »Herzlichen Glückwunsch.« Shan wußte, daß Tan Dankbarkeit erwartete, aber in all den Jahren in Lhadrung hatte der Oberst keinen Finger krumm gemacht, um etwas gegen die unmenschlichen Haftbedingungen im Straflager zu unternehmen.
    Tan sah aus, als würde er jeden Moment über den Tisch springen, um Shan einen Hieb zu verpassen. »Du existierst gar nicht«, zischte er.
    Es folgte drückendes Schweigen. Shan setzte sich auf einen der

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