Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
Stühle am Tisch und ließ Tan dabei keine Sekunde aus denAugen, als hätte er eine angriffsbereite Schlange vor sich. Der Oberst meinte die Worte als Drohung. Shan sollte nicht vergessen, wie mühelos man ihn verschwinden lassen konnte.
    Schließlich riß Shan sich von Tans kühlem Blick los und musterte den Lagerraum. Warum hatte der Oberst ihn nicht in das Verwaltungsgebäude geschleift? Wollte er nicht, daß Shan gesehen wurde? Oder wollte er verheimlichen, daß Shan und er sich kannten?
    »Da draußen sitzen Bettler«, wagte Shan sich vor. »Seit wann werden solche Menschen von Ihnen geduldet?«
    Tan zog eine filterlose Zigarette aus der Tasche, zündete sie an und blies Shan eine lange Rauchfahne entgegen. »Deine Hilfe ist diesmal nicht erwünscht. Ich befehle dir, dich von hier fernzuhalten.«
    Shan schaute dem Oberst erneut ins Gesicht und hoffte, daß man ihm die eigene Ratlosigkeit nicht allzusehr anmerken würde. »Einer der Leute wurde mit einem Helikopter aus den Bergen hergebracht. Der Mann heißt Surya. Man hat ihn erst festgenommen und dann wieder freigelassen. Warum?«
    »Die Entscheidung darüber, ob in diesem Bezirk behördliche Ermittlungen angestellt werden, liegt allein bei mir und nicht bei einem senilen Greis, der irgendwas von einem angeblichen Verbrechen faselt.«
    »Sie wollen sagen, ein weiterer Mord in Lhadrung wäre ziemlich lästig.«
    »Dieser Mann wurde nie offiziell verhaftet, und einen Mord hat es nie gegeben. Wir haben hier lediglich einen geistig verwirrten Tibeter vor uns, der fachkundiger Hilfe bedarf.« Tan nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und beäugte Shan nachdenklich. »Warum interessierst du dich so sehr dafür? Vielleicht sollte ich lieber eine unserer Sozialfürsorgestellen verständigen.«
    Es war ein Begriff aus dem Sprachgebrauch der höheren Funktionäre. Shan erschauderte unwillkürlich. Die Einrichtungen, auf die Tan anspielte, waren spezielle psychiatrische Anstalten unter Leitung der Öffentlichen Sicherheit oder geheime Laboratorien, in denen medizinische Experimente vorgenommenwurden. Lokesh, der genau wie Shan einst in einem dieser Institute in Haft gesessen hatte, pflegte zu sagen, daß man dort mit Chemikalien die innere Gottheit eines Menschen vertreiben und jemanden durch eine simple Injektion in eine niedere Lebensform verwandeln könne. Shan starrte kurz zu Boden und zwang sich dann, wieder Tan anzusehen. »Diese Westlerin. Wer ist sie?«
    »Eine Kunsthistorikerin namens McDowell. Sie ist zu Besuch hier.«
    »Wir verstecken uns vor einer Kunsthistorikerin?«
    »Wir verstecken uns vor niemandem.« Tan schaute den Rauchschwaden hinterher, die aus seinem Mund bis zur Decke stiegen. Dann setzte er sich und legte die verschränkten Hände auf den Tisch. Die glühende Zigarette ragte zwischen seinen Fingern senkrecht empor. Shan kannte diese Geste. Der Oberst hatte eigene mudras . »Falls ich noch einmal vor der gleichen Entscheidung stünde wie letztes Jahr, würde ich mich wieder genauso verhalten«, sagte Tan langsam. Er schien die Worte nur mühsam über die Lippen zu bekommen.
    Shan verstand nicht, warum er plötzlich einen seltsamen Schmerz empfand. Was genau meinte der Oberst? Wollte er Shan beschämen? Ihm kam ein schrecklicher Gedanke. Tan könnte ihm befehlen, Beweise gegen Surya zu sammeln, und drohen, Shan andernfalls einzusperren. »Es tut mir leid, falls Sie deswegen bestraft wurden«, sagte Shan nach einiger Überlegung und sah dabei auf die Tischplatte.
    »Nimm dich nicht so wichtig«, herrschte Tan ihn an. »Es hatte nichts mit dir zu tun, sondern mit der Tatsache, daß all diese Verbrecher direkt vor meiner Nase agieren konnten.«
    »Ich bin nicht wegen Ihnen hergekommen, Oberst. Auch ich war der Meinung, es wäre besser, unsere Wege würden sich nicht noch einmal kreuzen.«
    »Was hast du dann hier zu suchen? Geht es um diesen Bettler? Mir wäre es ohnehin lieb, er würde verschwinden. Nimm ihn mit.«
    »Er will nicht. Er verhält sich, als wäre er an dieses Gebäude gefesselt.« Shan war in Peking jahrelang für Leute wie Tan tätiggewesen, nur daß sie größere Limousinen gefahren und vornehmere Zigaretten geraucht hatten. Normalerweise wußte er also, wie der Oberst funktionierte, doch diesmal war ihm nicht klar, was für ein merkwürdiges Spiel sie hier spielten.
    Tan erhob sich und wies auf die Tür. »Dann geh. Verkriech dich wieder in deinem Loch. In ein paar Jahren werde ich pensioniert, und du kannst dein Glück ein

Weitere Kostenlose Bücher