Der verlorene Sohn von Tibet
weiteres Mal versuchen.«
»Falls Sie mich hier in Lhadrung nicht haben wollen, wieso setzen Sie dann eine Belohnung auf mich aus?«
Tan kam zwei Schritte auf Shan zu. Sein Arm schnellte vor, als hielte er eine Peitsche, und zeigte erneut auf die Tür.
Shan stand schweigend auf, ging an Tan vorbei und trat hinaus auf die Gasse. Er hatte bereits zehn Schritte zurückgelegt, als er hinter sich den Oberst leise fluchen hörte. Zwei Männer stiegen soeben in den silbernen Wagen ein und hielten inne, als sie Tan im Eingang des Lagerraums entdeckten. Shan erkannte in ihnen die beiden Chinesen wieder, die er an der Vordertür gesehen hatte. Der kleinere Mann mit dem zerzausten Haar trug nun eine Anzugjacke über der Weste, winkte ungelenk und rief dem Oberst einen Gruß zu. Der größere Mann lächelte frostig und stellte sich Shan in den Weg. Sein fragender Blick blieb über Shans Schulter hinweg auf den Oberst gerichtet. Der andere Mann musterte Shan argwöhnisch, seufzte enttäuscht auf und wandte sich an Tan. »Das ist der Kerl, von dem ich Ihnen erzählt habe. Er hat uns vorhin aus dem Hintergrund beobachtet«, rief er. »Kennen Sie ihn?«
Shan biß die Zähne zusammen und betrachtete den Mann mit neuem Interesse. Er hatte sich gut versteckt geglaubt und den Fremden kein einziges Mal in seine Richtung blicken gesehen. Es saß noch jemand im Wagen: die Westlerin, die ebenfalls vor dem Gebäude aufgetaucht war, die Kunsthistorikerin namens McDowell.
»Er ist ein ehemaliger Häftling«, erwiderte Tan, ohne zu zögern. »Diese Leute wandern manchmal ziellos im ganzen Bezirk umher. Solange sie hinter Gittern sind, hassen sie uns, aber wenn wir sie auf freien Fuß setzen, bringen sie es einfach nichtfertig, uns zu verlassen. Laut den Ärzten der Öffentlichen Sicherheit handelt es sich um eine psychische Störung.« Er klang völlig desinteressiert.
»Kriminelle werden bisweilen rückfällig«, stellte der Fremde fest. »Ein Verhör erweist sich oftmals als produktiv. Es gibt keine besseren Informanten als frühere Strafgefangene.«
Tan nickte langsam. »Durchaus. Auf die Leute aus unserem Lager im Tal trifft das allerdings nicht zu, denn sie werden vor ihrer Freilassung gründlich konditioniert. Danach haben die meisten von ihnen kaum noch einen Nutzen. Sie kommen nur gelegentlich in die Stadt und suchen nach Arbeit oder einer Mahlzeit. Es sind armselige Kreaturen. Bei diesem hier wurde die Familie zerstört, und sein Ruf ist völlig ruiniert. Er lebt von der Hand in den Mund. Ich habe ihm die Adresse der tibetischen Wohlfahrtsorganisation genannt. Er weiß, daß ich ihn jederzeit wieder festnehmen lassen kann.«
»Aber er ist ein Han.«
»Nicht mehr«, lautete Tans barsche Entgegnung. Im Vorbeigehen versetzte er Shan einen kräftigen Stoß in den Rücken.
Shan drehte sich zu dem Mann mit der Weste um, der sich im Moment mehr für den Oberst als für ihn zu interessieren schien. Dann wandte der Fremde sich langsam wieder Shan zu, betrachtete dessen alte ausgetretene Arbeitsstiefel, die abgewetzte und zwei Nummern zu große Hose und die braune Steppjacke mit den durchgescheuerten Ärmeln, auf deren Schulter eine kleine rote Vase aufgestickt war, das symbolische Gefäß der Weisheit. Es stammte von einer Frau, in deren Nomadenlager Lokesh und Shan Schutz vor einem Wintersturm gefunden hatten.
Der Mann holte ein paar Münzen aus der Tasche, drückte sie Shan in die Hand, runzelte die Stirn und ging ein Stück die Gasse hinunter. Sein vornehm gekleideter Begleiter setzte sich derweil hinter das Lenkrad des silbernen Wagens und sprach mit der Frau auf dem Beifahrersitz. Shan drehte sich um und sah, daß der kleinere Chinese in den dunklen Eingang des Lagerraums starrte. Der Mann am Steuer betätigte die Hupe, und der andere Chinese eilte im Laufschritt zum Fahrzeug. Gleich darauf fuhren sie mit hoher Geschwindigkeit davon.
Als Shan sich umwandte, blickte Tan noch immer dem Wagen hinterher. Das seltsam zwiespältige Verhalten, das der Oberst bei ihrem Gespräch an den Tag gelegt hatte, war nun vollends jener kalten Wut gewichen, die niemals völlig von seinem Antlitz verschwand. »Diesmal wird es anders sein«, fuhr Tan ihn an. »Falls du mir auch nur den geringsten Anlaß lieferst, dich wieder hinter Gitter zu bringen, hast du zum letztenmal das Tageslicht gesehen«, sagte er, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.
Nachdem der Oberst wieder in dem Verwaltungsgebäude verschwunden war, setzte Shan sich für eine
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