Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
weitere Viertelstunde zu Surya, aber der Mönch nahm immer noch keine Notiz von ihm, sondern starrte nur hilflos in den Staub zu seinen Füßen, rang die Hände, keuchte mitunter auf und schnappte nach Luft. Surya hatte sich an einen kalten und trostlosen Ort in seinem Innern zurückgezogen, der keinem Außenstehenden zugänglich war.
    »Was hat er euch erzählt?« fragte Shan den Mann mit der Decke, der zunächst versucht hatte, ihm ein Bein zu stellen. Der Bettler hielt wortlos die Hand auf. Als Shan ihm die Münzen gab, die der Chinese ihm in der Gasse zugesteckt hatte, fragte er sich erneut, warum Tan diese Leute hier duldete. Mir wäre es lieb, Surya würde verschwinden, hatte der Oberst gesagt. Als ob es jemanden gab, der gegenteiliger Meinung war. Und wenn man Surya gestattete, mitten auf dem Platz zu betteln, konnte man die anderen nicht davon abhalten. Aber weshalb ausgerechnet Surya? Nicht wegen des Mordes in Zhoka. Shan mußte an die drei Fremden denken, die hier auf den Stufen das thangka in Augenschein genommen hatten. Surya war ein Künstler. Spielte das in diesem Zusammenhang eine Rolle?
    Der Mann schob die Decke nach hinten, als habe Shan sich das Recht erkauft, sein Gesicht zu sehen. »Er hat flüsternd einige Lieder gesungen«, sagte der Bettler nervös. Seine Wangen waren mit gezackten Narben übersät, wie sie von Schlagstöcken hinterlassen wurden. Er schaute immer wieder zur Treppe. »Manche davon waren alte Kinderlieder, die mir schonmeine Mutter vorgesungen hat. Und er hat mich nach der chinesischen Magie gefragt.«
    »Magie?«
    »Er hatte noch nie einen Laster oder ein Auto gesehen. Er nannte sie chinesische Karren und wollte wissen, wie sie sich ohne Pferde oder Yaks fortbewegen können.« Der Bettler warf zögernd und widerwillig einen Blick auf die Münzen in seiner Hand, als würden sie ihn verpflichten, Shans Fragen zu beantworten. »Er hat sich erkundigt, ob der große Abt wohl bewirken kann, daß sie sich in die Lüfte erheben.« Er sah Shan an. Sein Nasenrücken hatte einen Knick, offenbar das Überbleibsel eines Knochenbruchs.
    »Ein Abt? Welcher Abt?«
    »Das habe ich ihn auch gefragt. Er sagte, er habe in den Bergen einen mächtigen Abt getroffen, der starke Zauber beherrscht.« Der Mann beäugte ihn mißtrauisch. »Stimmt das?« fragte er leise und drängend. »Ist unserem Volk ein Abt zu Hilfe gekommen?«
    Shan schaute verwirrt zu den fernen Gipfeln. »Ich weiß nicht, was in den Bergen vorgeht.« Er musterte abermals Surya. »Hat er verraten, welche Fragen man ihm gestellt hat?«
    Der Mann zuckte die Achseln. »Fragen diese Leute denn nicht immer das gleiche?«
    »Du hast seinen Apfel genommen«, stellte Shan fest.
    Der Mann zuckte erneut die Achseln. »Sieh ihn dir doch an. Er hat für diesseitige Dinge keinerlei Verwendung mehr. Ich kenne das. Ich habe gesehen, wie man ihn rausgeworfen hat und wie er schrie, als die anderen ihn einfach liegenließen und nicht länger zuhören wollten. Er sagte, er müsse an den Ort mit dem Drahtzaun gehen, wo man die alten Lamas gefangenhält, bis sie sterben.« Der Bettler steckte das Geld ein und zog sich die Decke wieder über den Kopf.
    Shan suchte seine Taschen ab und fand eine kleine tsa-tsa , eine Tontafel mit dem Abbild eines Heiligen. Er warf sie dem Mann in den Schoß. »Du hast mir noch nicht gesagt, was Surya diesen Leuten erzählt hat.« Der alte Mönch schien sich zwar nicht für Shans Fragen und womöglich auch nicht für die derVernehmungsbeamten zu interessieren, wollte aber andererseits unbedingt etwas mitteilen.
    Der Bettler streifte die Decke stirnrunzelnd wieder ab und schloß dann langsam beide Hände um das tönerne Bild. Als er letztlich antwortete, wirkte er auf seltsame Weise verärgert und dankbar zugleich. »Man hat ihn nach Höhlen, Schreinen und Symbolen in Gemälden befragt und ihm ein paar alte thangkas gezeigt. Er jedoch hat immer wieder behauptet, er sei ein Mörder. Und er hat versichert, er wisse nicht, wo sich weitere Gemälde befinden.«
    »Das alles hat er dir erzählt?«
    »Es ist mir zu Ohren gekommen.«
    Shan verzog das Gesicht und verwünschte sich für die eigene Blindheit. »Du bist ein Spitzel.«
    »Aber natürlich. Glaubst du etwa, ich würde mitten auf Tans Platz sitzen können, falls ich nicht den entsprechenden Auftrag erhalten hätte?«
    »Was genau wollten die über die Gemälde wissen?«
    Wieder zuckte der Mann die Achseln. »Das muß wohl irgendeine neue Politkampagne sein. Mehr hat der

Weitere Kostenlose Bücher