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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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alte Mann nicht gesagt, abgesehen von einer Warnung, als man ihn hinauswarf. Er sagte, Tempel der Erdbändigung seien für Leute wie sie viel zu gefährlich. Als ob die sich einen Dreck darum scheren würden.« Der Bettler verstaute die tsa-tsa unter der Decke und verhüllte abermals seinen Kopf.
    Als ob die sich einen Dreck darum scheren würden. Die alten Tibeter hingegen würden einem Erdtempel hohe Bedeutung beimessen. Während Shan durch die Gassen ging, mußte er ständig an die Worte des Bettlers denken. Das alles schien sehr unwahrscheinlich, hätte aber eine Menge erklärt. Shan hatte seit seiner Haft keinen Tibeter mehr über Tempel der Erdbändigung sprechen gehört. Damals im Lager waren diese Tempel Bestandteile der Geschichten gewesen, die von den ältesten Lamas während der langen Winternächte erzählt wurden.
    Als man vor vielen Jahrhunderten begann, die ersten der später vielen tausend tibetischen Klöster zu gründen, errichteteman zunächst eine Reihe von Tempeln, deren Standorte auf gewaltigen konzentrischen Kreisen lagen. Mittelpunkt dieser Kreise war der heiligste Tempel des Landes, der Jokhang in Lhasa, mehr als hundertfünfzig Kilometer nordwestlich von Lhadrung. Er war gebaut worden, um das Herz des obersten Landdämons zu verankern, der sich anfangs gegen die Einführung des Buddhismus gesträubt hatte. Jeder der anderen Tempel war einem weiteren Bestandteil des gewaltigen Dämons gewidmet, und manche lagen Hunderte von Kilometern von Lhasa entfernt. Gemeinsam sorgten sie dafür, daß zwischen dem Land und den Menschen Einklang herrschte. Surya hatte davon gesprochen, etwas an den Erdboden zu nageln, und Shan war nicht auf den Gedanken gekommen, dies könne in Zusammenhang mit den alten Geschichten stehen. Die Tradition besagte, daß die Erdtempel böse Dämonen in Schach hielten, indem sie sie mit heiligen Nägeln oder Dolchen am Boden aufspießten.
    Obwohl die Tempel der Erdbändigung einst als Tibets wichtigste Orte spiritueller Macht gegolten hatten, stellten sie für die meisten Leute mittlerweile ein Relikt aus grauer Vorzeit dar. Allerdings nicht für Gendun, Surya oder Lokesh. Manche der Orte waren noch heute bekannt, der Großteil jedoch vergessen, wenngleich Shan sich nun daran erinnerte, während seiner Haft von einer alten Legende gehört zu haben, laut deren einer der betreffenden Tempel in der Nähe Lhadrungs lag. Wie kam Surya plötzlich darauf, es müsse sich dabei ausgerechnet um Zhoka handeln? dachte Shan. Dann fiel es ihm ein: Surya hatte in einer Höhle ein altes Buch gefunden.
    Zehn Minuten später erreichte Shan den Rand der Stadt und hielt nach einem Lastwagen Ausschau, der eventuell in Richtung Berge fuhr, als jenseits des Marktplatzes Applaus aufbrandete, gefolgt von einer Lautsprecherstimme. Nach nur fünf Minuten machte Shan die Leute ausfindig: Sie hatten sich auf dem Sportplatz der örtlichen Schule versammelt. Vor der kleinen, nicht überdachten Steintribüne stand ein Podium, daneben auf einem Zementsockel eine weitere Mao-Büste. Ein Mann in einem Anzug stellte soeben einen besonderen Gast aus Pekingvor, einen namhaften Wissenschaftler, der als jüngster Direktor aller Zeiten eine berühmte Institution leitete. Zwischen dem Flaggenmast beim Podium und der Tribüne war ein Banner aufgespannt und kündigte eine Veranstaltung zu Ehren von Direktor Ming vom Pekinger Museum für Altertümer an, organisiert von der chinesisch-tibetischen Freundschaftsvereinigung.
    Eine Menge aus ungefähr hundert Zuschauern, fast ausschließlich Han-Chinesen, spendete Beifall, als nun ein Mann in einem blauen Anzug auf das Podium stieg. Er hatte Shan den Rücken zugewandt und nahm aus den Händen des Ansagers das Mikrofon entgegen. »Sie sind diejenigen, die hier Beifall verdient haben«, sagte der Fremde mit geschliffener Stimme, erst auf Mandarin, dann auf tibetisch. »Sie sind die wahren Helden der großen Reform, denn Sie haben gelernt, wie man die Stärken all unserer großartigen Kulturen vereint.«
    Der Sprecher drehte sich ein Stück zur Seite, so daß Shan sein Gesicht sah. Er konnte es kaum glauben: Es war der hochgewachsene, gepflegt wirkende Mann von der Treppe des Verwaltungsgebäudes, einer der beiden Chinesen, denen Tan hatte ausweichen wollen. Und er war der Leiter des renommiertesten Museums von Peking, wenn nicht sogar von ganz China. Was machte er hier in Lhadrung?
    Mit ernster Stimme sprach Direktor Ming einige Minuten lang über die Notwendigkeit, die

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