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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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bedeutenden Kulturen Chinas miteinander zu verschmelzen, und daß diese schwierige Aufgabe für die Menschen in Peking eine ebenso große Herausforderung darstelle wie für die Menschen in Lhadrung. Er erzählte, daß er beschlossen habe, seinen alljährlichen Sommerkurs hier vor Ort abzuhalten, weil dies ein besonders fruchtbarer Boden für das Projekt sei. In diesem Bezirk, so Ming, hätten sich erst sehr wenige Chinesen angesiedelt, und es gäbe noch dermaßen viel Geschichtliches zu vermitteln. Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, zog er einen weißen Seidenschal aus der Tasche, eine zeremonielle tibetische khata . Er reckte sie mit beiden Händen empor und schlang sie dann mit theatralischer Geste um den Hals der Mao-Büste. Die Zuschauer brachen erneut in lauten Jubel aus.
    Shan zog sich unauffällig zurück, denn er wußte, daß derartige Zusammenkünfte stets von Soldaten überwacht wurden. Als er den Sportplatz verließ, sah er die Frau mit dem rötlichen, kastanienbraunen Haar hinter dem Steuer des silbernen Wagens sitzen. Sie hatte sich zurückgelehnt und las ein Buch. Shan vergewisserte sich, daß keine Patrouillen in der Nähe waren, und trat an das offene Fenster der Limousine.
    »Sie haben einem meiner Freunde einen Apfel geschenkt«, sagte er leise auf englisch. »Vielen Dank.«
    Die Frau blickte lächelnd auf. »Ich habe es zumindest versucht, aber er schien es kaum zu bemerken.« Sie klang bekümmert, doch das Lächeln blieb. »Können Sie mit Surya sprechen? Vielleicht möchte er sich nur jemandem anvertrauen, den er besser kennt.« Ein kleiner tibetischer Junge kam angelaufen, drängte sich an Shan vorbei und gab der Frau eine Flasche mit einem orangefarbenen Getränk.
    » Thuchechey «, bedankte sie sich auf tibetisch und gab dem Jungen ein Geldstück, das viermal soviel wert war wie die Limonade. Der Junge schnappte es sich und rannte mit einem Freudenschrei davon.
    »Man kann ihn derzeit nicht erreichen«, sagte Shan.
    »Das klingt, als hätten Sie versucht, ihn anzurufen«, sagte die Frau. Shan konnte ihren Akzent nicht eindeutig zuordnen. Sie hörte sich nicht wie eine Amerikanerin an.
    »Ich meine …«
    »Ich weiß, was Sie meinen. Es ist schrecklich. Sind Sie wirklich mit ihm befreundet?« Sie deutete auf den Beifahrersitz. »Steigen Sie ein! Falls Ihnen etwas an ihm liegt, sollten wir beide uns unterhalten.«
    Shan wandte den Kopf und rechnete halb damit, die ersten Soldaten zu entdecken. Die Menge applaudierte erneut. Auf dem Podium stand nun eine Frau und schien dem Ehrengast etwas zu präsentieren.
    Shan musterte die Westlerin. Sie kannte Surya. Aber das war unmöglich. »Haben Sie ihn in den Bergen getroffen?« fragte Shan, als er sich neben sie setzte.
    »Ein einziges Mal. Ich war nicht bei jedem der Besuche dabei«,sagte sie. Ihre sanfte, kultivierte Stimme ließ auf eine hohe Bildung schließen. »Ich heiße McDowell. Elizabeth McDowell. Meine Freunde nennen mich Punji, nach den angespitzten Bambuspflöcken.«
    Shan nannte seinen Namen nicht. »Was für Besuche? Und warum bei den Ruinen?«
    »Das hat mit Direktor Mings jährlichem Sommerkurs zu tun, seinem Workshop für Studenten. Er legt ein Verzeichnis alter Kulturstätten an. Die Studenten und einige seiner Assistenten sind ihm während des Sommers dabei behilflich.« Neben McDowell lagen mehrere Papiere auf dem Sitz, darunter einige große Umschläge. Absender war jeweils der Tibetische Kinderhilfsfonds mit einer Anschrift in London.
    »Surya muß zurück in die Berge und bei seinen Freunden sein«, sagte Shan.
    »Er streitet ab, daß er Surya heißt«, erinnerte McDowell ihn. »Er behauptet, Surya sei gestorben.«
    Als Shan versuchte, möglichst unauffällig einen Blick auf die losen Blätter zu werfen, die unter den Umschlägen lagen, öffnete sich hinter ihm die Tür, und jemand stieg ein. McDowell ließ ihr Buch auf die Umschläge fallen, drehte den Zündschlüssel und fuhr los.
    »Er hat einen furchtbaren Schock erlitten«, sagte Shan. »Jemand ist ums Leben gekommen. Surya hat mit so etwas keinerlei Erfahrung. Sein ganzes Dasein hat der Kunst gegolten.«
    »Studiere nur das Absolute«, warf eine sanfte Stimme von der Rückbank ein. Shan drehte sich um. Direktor Ming lächelte ihn an.
    »Er kennt unseren Freund Surya«, teilte McDowell dem Direktor mit, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.
    »Ich wollte nicht stören«, sagte Shan und überlegte fieberhaft, ob er aus dem fahrenden Wagen springen sollte.
    »Wo kann

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