Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
die Tür. Er hatte das Gelände fast schon verlassen, als Ming ihm eine Frage zurief.
    »Wer war sonst noch mit dem alten Mönch bei den Ruinen?«
    Shan drehte sich um. »Ein paar Fremde.«
    Mings Augen verengten sich. »Wie kommen Sie darauf?«
    Shan holte den kleinen Zigarrenstummel aus der Tasche und hielt ihn hoch. »Das hier stammt von keinem Tibeter. Gehört es Ihnen?«
    Ming wirkte plötzlich überaus angespannt. »Lassen Sie mal sehen.«
    Shan legte den Stummel auf die Kofferraumhaube des Wagens und wich zurück. Ming hob den Zigarrenrest langsam auf, roch daran, ließ ihn fallen und zertrat ihn. »Nein, von mir stammt es auch nicht. Es hat nichts zu bedeuten.«
    »Nichts«, wiederholte Shan.
    Aber das entsprach nicht der Wahrheit. Ming starrte auf die Tabakkrümel zu seinen Füßen und dann wütend in Richtung der Berge. »Falls Sie Surya tatsächlich kennen und wissen, wer seine Freunde, die Einsiedler, sind, die sich in den Bergen verstecken, richten Sie ihnen aus, daß ihre Zeit abläuft«, sagte der Museumsdirektor mit plötzlich eisiger Stimme. »Falls es nicht Surya ist, wer dann? Wir begnügen uns nicht mit dem halben Tod«, verkündete er und schien auf eine bestimmte Reaktion Shans zu lauern. »Der Kaiser hat bereits viel zu lange gewartet.«
    »Der Kaiser?« Shan glaubte sich verhört zu haben. »Der halbe Tod?« Dieser Mann hier vor ihm war nicht länger der leutselige Wissenschaftler, den er auf dem Sportplatz gehört hatte. Mings Blick war bohrend und unerbittlich. »Was wollen Sie in den Bergen?«
    Ming runzelte die Stirn und schaute wieder zu der zermalmten Zigarre. »Ich will einen weiteren Mönch. Einen der Alten aus dem Hochgebirge.«
    Shan klebte auf einmal die Zunge am Gaumen. »Warum?«
    »Bringen Sie mir einen Mönch, und ich werde Sie gut bezahlen.«
    »Es gibt keine Mönche in …«
    Ming schnitt ihm mit einer schroffen Geste das Wort ab. »Wissen Sie, es gibt Bomben, mit denen man Terroristen in Höhlen bekämpft. Die Höhle wird dabei nicht zerstört, weil die Bombe nur sämtlichen Sauerstoff entzieht, so daß alle Insassen ersticken.« Ein kleiner Junge lief an ihnen vorbei und einem Ball hinterher. Ming winkte ihm lächelnd zu und wandte sich dann wieder an Shan. »Sagen Sie ihnen, daß bald alle erfahren werden, wer gestorben ist. Und dann wird es zu spät für sie sein.«
    »Demnach wissen Sie, wer gestorben ist?«
    »Das bleibt vorerst ein Staatsgeheimnis.« Ming seufzte und bedeutete Shan mit einem Wink, er könne gehen. »Bringen Sie mir einen Mönch. Oder ich werde Oberst Tan mitteilen, daß Surya tatsächlich einen Mord begangen hat.«

Kapitel Vier
    Als Shan die Hügel oberhalb des Tals erreichte, war es früher Nachmittag. Suryas trostlose Miene und die merkwürdigen Worte Mings und des zweiten Bettlers ließen ihn nicht mehr los. Er war in die Stadt gegangen, um nach Antworten zu suchen, kehrte aber noch verwirrter und entsetzter zurück als zuvor. Ein Mörder ging in den Hügeln um, und Gottestöter suchten die Berge heim. Doch sofern Zhoka wirklich ein Tempel der Erdbändigung war, gab es für die alten Mönche nichts Wichtigeres als den Schutz der Stätte. Shan würde Ming niemals den geforderten zweiten Mönch ausliefern, aber Gendun würde sich bereitwillig opfern, falls er glaubte, auf diese Weise Surya helfen oder Zhoka schützen zu können.
    Während des Aufstiegs begann noch ein anderer Gedanke an Shan zu nagen. Tans seltsame Beschreibung seiner Person fiel ihm wieder ein. Bei dem Versuch, Shan als bedauernswerten Ex-Häftling abzutun, hatte der Oberst gesagt, seine Familie sei zerstört worden. Im Jahr zuvor hatte es Tan sichtliches Vergnügen bereitet, Shan mitteilen zu können, daß seine Frau während der Haft eine Annullierung der Ehe bewirkt und wieder geheiratet hatte. In ihren Augen war Shan schon immer eine große politische Enttäuschung gewesen, und zweifellos hatte sie ihrem gemeinsamen Sohn eingeredet, sein Vater sei mittlerweile tot. Aber der Oberst hatte nicht gesagt, Shan habe seine Angehörigen verloren oder sei von ihnen verlassen worden. Er hatte ausdrücklich von einer Zerstörung der Familie gesprochen. Gewiß war das bloß Tans Art, sich auszudrücken, hielt Shan sich immer wieder vor Augen. Vermutlich konnte der Oberst sich gar nicht mehr genau an die Einzelheiten erinnern und hatte lediglich den möglichst überzeugenden Eindruck erwecken wollen, es handle sich bei Shan um eine jenerjämmerlichen Gestalten, die ziellos in der Gegend

Weitere Kostenlose Bücher