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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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ich Sie absetzen?« fragte McDowell und klang dabei seltsam schelmisch.
    »Nirgendwo. Ich steige gleich hier aus«, sagte Shan und legte die Hand auf den Türgriff. »Bitte.«
    »Unsinn. Wie haben Sie Surya kennengelernt? Ist er wirklichein Mönch? Und falls Sie mir nicht verraten, wohin Sie möchten, nehmen wir Sie eben zu der alten Ziegelei südlich der Stadt mit.«
    Shan lehnte sich zurück. »Die Ziegelei paßt mir gut«, sagte er nervös. Die baufällige Fabrik lag nur knapp drei Kilometer vom Fuß der Berge entfernt.
    Ming beugte sich mit plötzlichem Interesse vor. »Sie wissen, wie man diesen alten Mönch zum Reden bekommt?« Er klang, als wolle er Surya ein Geständnis abringen, das offenbar nichts mit dem Mord zu tun hatte. Dann nahm er Shan etwas genauer in Augenschein. »Sie sind derjenige, der vorhin bei Tan war.«
    »Surya gibt manchmal einen ganzen Monat lang kein Wort von sich«, sagte Shan wahrheitsgemäß.
    »Aber er weiß so viel, das überliefert werden muß«, stellte Ming mit hörbarer Enttäuschung fest. »Es könnte sich als sehr wertvoll erweisen, ihn zu einem erneuten Gespräch zu bewegen.«
    Shan wurde aus dem ernsten jungen Han nicht so recht schlau. Man hatte den Mann gewiß nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen Eignung zum jüngsten Direktor eines der landesweit bedeutendsten Museen berufen. »Haben Sie ihn bei den Ruinen besucht?«
    »Dreimal«, räumte Ming bereitwillig ein. »Er hat mir erklärt, an was für einer Art von Gemälde er dort bei diesem alten Turm gearbeitet hat, und ich habe ihn nach alten Schreinen befragt. Das alles ist für meine Untersuchungen ziemlich wertvoll.«
    »Sind Sie beide vorletzte Nacht in den Bergen unterwegs gewesen?« fragte Shan unvermittelt.
    Einen Moment lang durchbohrte Ming ihn mit einem strengen, fast schon bedrohlichen Blick. Dann zuckte er die Achseln. »Er hat einen mentalen Zusammenbruch erlitten. Anfangs dachte ich, es sei ein Schlaganfall, aber einer der Militärärzte hat ihn untersucht und für gesund erklärt. Leider scheint er nicht mehr zu wissen, wer er ist oder was es mit seiner Kunst auf sich hat. Er jammert ständig über den Tod und irgendwelche Morde.«
    »Haben Sie ihn von der Armee abholen lassen?«
    Ming lächelte selbstgefällig. »Unserem Projekt wurde weitreichende Unterstützung zugewiesen.«
    Shan hätte so etwas nie für möglich gehalten. Der Museumsdirektor hatte sich von Tan einen Trupp Soldaten ausgeliehen, um Surya wegen seiner historischen Forschungen befragen zu können.
    McDowell seufzte übertrieben. »Genosse Ming hält sich für eine Art Parteiboß«, sagte sie lächelnd zu Shan. Dann verringerte sie das Tempo und deutete auf einen Yak, der auf einem Acker einen Pflug zog. »Ich erinnere ihn immer wieder daran, daß er bloß ein Museum leitet. Die Milliardäre interessieren sich nicht für ihn, sondern nur für seine Kunst.«
    »Milliardäre?« fragte Shan und ertappte sich dabei, daß seine Hand nach dem alten gau tastete, das er unter seinem Hemd trug, genau wie Lokesh es immer tat, wenn der alte Tibeter die Anwesenheit von Dämonen spürte.
    McDowell betrachtete weiterhin den Yak und lächelte erneut, als bereite der Anblick ihr Freude. »Sie wissen schon«, sagte sie schließlich. »Gönner. Kunden. Die Leute, die neue Museumsflügel bezahlen. Die Teilhaber von Direktor Mings Geschäft.«
    Als sie auf das alte Fabrikgelände einbogen, wirkte es zunächst immer noch verlassen, aber sobald McDowell das Gebäude umrundete, kam eine Warteschlange in Sicht. Es waren hauptsächlich Tibeterinnen mit kleinen Kindern, und jenseits der Schlange stand ein roter Minibus mit einem Nummernschild aus Lhasa. Über einer Tür an der Ecke des altersschwachen Backsteinbaus hing ein handgeschriebenes Schild, auf dem in ausschließlich tibetischer Schrift Kostenlose medizinische Untersuchung für Kinder stand. Mehrere der Tibeter winkten McDowell zu. Als sie zurückwinkte und den Motor ausschaltete, bemerkte sie Shans fragenden Blick. »Die Mittel der Hilfsorganisation reichen leider nur für Medikamente und die Reisekosten der Krankenschwestern. Ich helfe, wo ich kann. Stellen Sie sich an, dann verabreichen wir Ihnen ein paar Vitamine.« Sie öffnete die Tür und stieg aus. Zahlreiche Grüße schallten ihr entgegen.
    »Zwanzig Minuten, nicht länger«, rief Ming ihr hinterher. Er stieg selbst aus und zündete sich eine Zigarette an. Shan griff sich eines der losen Blätter vom Sitz, stopfte es unter sein Hemd und öffnete

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