Der verlorene Sohn von Tibet
umherirrten.
Oben auf dem ersten Kamm ließ Shan sich auf einen Felsen sinken und versuchte, seinen Geist an einen ähnlich stillen Ort wie die Bergwiese zu führen, auf der saß. Er mußte unbedingt seine Gedanken ordnen. Das kurze Gespräch mit Ming kam ihm wie ein Alptraum vor. Er mußte etwas falsch verstanden haben, denn der kultivierte Museumsdirektor konnte doch unmöglich in einem beiläufigen Satz das Leben der Mönche bedroht haben. Niemand in Lhadrung wußte von der geheimen Einsiedelei. Niemand außer Surya, wurde ihm mit jähem Entsetzen klar.
Er mußte die Mönche finden und sie überzeugen, vor den Fremden zu fliehen, die nach Lhadrung gekommen waren. Doch schon beim Blick auf die Gipfel im Osten, zwischen denen Yerpa lag, wußte er, daß sie niemals davonlaufen würden.
Als er die Fahrt mit McDowell und Ming noch einmal Revue passieren ließ, fiel ihm der Zettel wieder ein, den er aus dem Wagen mitgenommen hatte. Es war ein Computerausdruck in chinesischer Schrift, doch es handelte sich um ein tibetisches Dokument voller tibetischer Ortsnamen und Gebetsanweisungen. Ein neyig , erkannte er nach der zweiten Lektüre. Die Britin las einen Leitfaden für Pilger, eines der uralten Bücher, die den Weg zu wichtigen Schreinen und Orten spiritueller Macht beschrieben. Jemand hatte sich beträchtliche Mühe gegeben und eines der alten Werke Wort für Wort übersetzt. Das Blatt war am unteren Rand numeriert. Band vierzehn, Seite sechsundfünfzig. Shan las es ein weiteres Mal und erinnerte sich nun an manche der Namen. Kumbum. Sangke. Sie lagen viele hundert Kilometer nördlich von hier. Aber dies war bereits Band vierzehn. Demnach hatte jemand eine gewaltige Anstrengung unternommen und eine Vielzahl der alten Werke zusammengetragen und übersetzt. Falls Ming nach alten Schreinen in den Bergen suchte, würden diese Bücher ihm verraten, wie man zumindest an den Großteil der Orte gelangte. Sie würden in Höhlen liegen, in alten tibetischen Häusern, an geschützten Stellen, denen man große Macht zuschrieb. Shankannte sich in diesem Teil des Gebirges nicht allzu gut aus, und viele der heiligen Orte waren ihm nicht vertraut. Allerdings war er letzte Nacht auf ein Gebäude gestoßen, das überaus alt gewirkt hatte.
Ein halbe Stunde später blickte er hinunter zu dem Haus, dessen Umriß er im Dunkeln gesehen hatte, ein kleiner Steinbau mit grauem Ziegeldach, eng an die Flanke des Hügels geschmiegt. Auf einer Seite hatte man zwei Anbauten hinzugefügt, einen aus gepreßter Erde, den anderen aus Sperrholz und den Bohlen eines früheren, größeren Bauwerks. Vorsichtig wagte Shan sich näher heran und hielt nach dem Hund Ausschau, den er in der Nacht gehört hatte. Jenseits des Hauses lag ein kleines, von Steinen umrahmtes Gerstenfeld. Ein Nebengebäude mit Heuhaufen fungierte eindeutig als Stall, aber die zweite Hütte diente entgegen Shans Vermutung nicht als Futterkammer. Das robuste Häuschen war vollständig aus Stein errichtet; auch das Dach bestand aus dünnen Felsplatten, und den kleinen Schornstein hatte man aus Blöcken ohne Mörtel zusammengefügt.
Shan ging langsam darauf zu. Dieses kleine Gebäude sah sogar noch älter aus als das Haupthaus. Es gab keine Tür, nur einen offenen Eingang mit verwittertem Holzrahmen. Im Innern erspähte Shan ein gewölbtes steinernes Gebilde und davor ein Gerät mit Pedal und einem Lederriemen, der eine große runde Holzplatte antrieb. Es handelte sich um eine Töpferscheibe samt Brennofen, die wahrscheinlich seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt worden waren.
Vor dem Stall befand sich ein kleines Gehege aus Erdwällen. Darin lag Schafdung, aber die Tiere waren nirgendwo zu sehen. In dem geschützten Bereich zwischen Stall und Haus hatte man den Boden festgestampft und mittels eines Holzgerüsts und einer zerlumpten Filzdecke eine provisorische Veranda erschaffen. Im Schatten der Decke standen mehrere Tontöpfe aufgereiht, über deren Öffnungen Tücher gespannt und mit Garn verschnürt waren. Tibeter bewahrten auf diese Weise oft Butter und Milch auf. Hinter den Töpfen lag auf einem Viereck aus schlichter Wolle ein Haufen grobkörniges Salz. Neben derTür standen drei kleine dongmas , Butterfässer zur Herstellung von Buttertee, und anderthalb Meter dahinter ein eiserner Dreifuß, an dem ein Kessel über der Glut eines Kochfeuers hing. Entlang des Saums der Filzdecke hatte man dünne Täfelchen aufgereiht, insgesamt etwa hundert Exemplare. Es waren tsa-tsas , in
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