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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Ton gestempelte Heiligenbilder, die noch angemalt werden mußten.
    Die stabile, von Wind und Wetter gezeichnete Brettertür stand noch immer spaltbreit geöffnet. Shan klopfte an, rief laut und trat dann ein. Durch das einzige Fenster fiel Licht in den aufgeräumten und ordentlich gefegten Raum. Es roch schwach nach Weihrauch, und es schien fast, als habe man hier ein Treffen vorbereitet und dann doch nicht abgehalten. Zwei Wände aus gepreßter Erde bildeten eine Nische, die als Schrein diente. Sie enthielt ein altes Stoffgemälde und einen Altar, auf dem eine bemalte Keramikstatue des historischen Buddha und die sieben traditionellen Opferschalen standen. Shan bückte sich, um thangka und Statue genauer in Augenschein zu nehmen. Sie waren beide alt und außerordentlich detailliert gearbeitet, die Werke vollendeter Künstler.
    Gegenüber dem Altar, in dem Anbau aus Sperrholz und Karton, die man auf dicke Bohlen genagelt hatte, waren einige zusammengerollte Schlafmatten und mehr als ein Dutzend warmer Decken verstaut. Nur jeweils ein Exemplar lag offen da und war erst kürzlich benutzt worden. Shan schritt langsam die Wände ab. Er fühlte sich unbehaglich, weil er kurzerhand in das Haus eingedrungen war, machte sich jedoch beständig Gedanken darüber, wer hier wohl wohnen und was mit ihm geschehen sein mochte. Von einer Querstange an der Rückwand des Hauptraums hing ein großes, dünnes Tuch herab, dessen ehemals buntes Blumenmuster zu graubraunen Schatten verblichen war. Shan ging zu einer kleinen Truhe, auf der diverse Kochutensilien lagen, dann wieder zu dem großen Tuch. Er zog es beiseite. Dahinter befanden sich sechs tiefe Regalböden. Die unteren enthielten Haushaltsgegenstände, Geschirr und Töpfe, lange Holzlöffel und eine Schale voller Knöpfe.
    Im zweiten Fach von oben lagen mehrere peche , traditionelletibetische Bücher, deren lange, lose Blätter zwischen zwei hölzernen Deckeln lagen und mit Seidenbändern verschnürt waren. Daneben stand ein halbes Dutzend anderer Titel, alle nach westlicher Art gebunden und in englischer Sprache verfaßt. William Shakespeares Gesammelte Werke . Berühmte britische Gedichte . Ein Roman von Graham Greene. Ivanhoe von Walter Scott. Shan strich mit einem Finger über den Rücken dieses letzten Bandes und wurde fast von seinen Gefühlen übermannt. Sein Vater hatte ihm einst aus Ivanhoe vorgelesen, heimlich in einem Wandschrank, während die Mutter aufpaßte. Später hatten die Roten Garden sämtliche Bücher seines Vaters verbrannt. Die Bände hier in dem Regal waren alle viele Jahrzehnte alt. Shan betrachtete das illustrierte Titelblatt von Scotts Roman, auf dem ein blonder Knappe einem Ritter in die Rüstung half. Nun war er sich sicher. Es handelte sich um genau die gleiche Ausgabe, die auch Shans Vater besessen hatte.
    Die einzigen Gegenstände im obersten Regal waren die Keramikbüste einer dicken Westlerin mit rosigen Wangen und einer Krone auf dem Kopf sowie ein großer Holzkasten mit Ledergriff und Schnappschlössern aus Messing. Shan blickte quer durch den leeren Raum zur offenen Tür und nahm den Koffer heraus. Er maß ungefähr fünfzig mal fünfundzwanzig Zentimeter, und die Messingbeschläge waren ebenso auf Hochglanz poliert wie das Walnußholz. Shan stellte den Kasten auf dem schlichten kleinen Tisch ab und ging zum Eingang. Noch immer war niemand zu sehen. Unschlüssig lief er eine Weile im Zimmer hin und her, kehrte dann zu dem Tisch zurück und klappte hastig den Deckel des Koffers auf.
    Es handelte sich um ein Teeservice aus Porzellan, sorgsam in Holzwolle gebettet und mit blauen und goldenen Blumen bemalt. Shan nahm die zierliche Kanne und musterte sie verblüfft. Ihre lange Tülle war mit blühenden Reben verziert, und den Deckel krönte ein kleiner Knauf in Form einer Rosenknospe. Das war weder ein tibetisches noch ein chinesisches Geschirr. Auf der Unterseite stand Staffordshire . Rund um die Kanne hatten sechs passende Tassen und Untertassen gelegen. Eine der Tassen fehlte; man konnte noch immer den Abdruckin dem Füllmaterial erkennen. Als Shan die Fasern betastete, fiel ihm jäh wieder ein, wie der englische Begriff für »Holzwolle« lautete, denn damals während des Unterrichts im Wandschrank hatten er und sein Vater darüber lachen müssen, wie seltsam das Wort über die Zunge rollte: Excelsior . Dennoch hatte Shan die schwierige Aussprache bewältigt und war von seinem Vater daraufhin zum Meisterschüler erklärt worden.
    Behutsam legte

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