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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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er die Kanne zurück, schloß den Kasten und stellte ihn wieder in das Regal. Nach einem kurzen Blick zur Tür nahm er noch einmal den Roman von Walter Scott, blätterte die dicken weißen Seiten durch und hielt bei den Farbtafeln inne, auf denen prächtige Ritter und Damen mit traurigen, sehnsüchtigen Mienen abgebildet waren. Die Ränder der Illustrationen, nicht jedoch die der anderen Seiten, waren mit Fingerabdrücken übersät. Shan schaute ganz vorn im Buch nach. Verlegt in London, 1886, stand dort. Er wandte sich ein weiteres Mal schuldbewußt zur Tür um, war aber nicht in der Lage, die Gefühle zu unterdrücken, die dieses Buch in ihm ausgelöst hatte. Er schlug die erste Seite des Textes auf. Dann fing er an, laut zu lesen, und war plötzlich ganz aufgeregt. Im ersten Moment flüsterte er nur, aber gleich darauf gewann seine Stimme an Kraft, und er ging zur Tür, so daß er in Richtung Himmel sprechen konnte.
    In jener lieblichen Gegend Englands, welche der Fluß Don bewässert, erstreckte sich vor alten Zeiten ein ansehnlicher Wald, der den größten Teil der schönen Hügel und Täler bedeckte, die zwischen Sheffield und der freundlichen Stadt Doncaster liegen.
    Auf einmal wurde ihm bewußt, daß seine Hand zitterte und sein Herz raste. Die Namen schwammen inmitten einer Flutwelle von Erinnerungen, und für einen Moment glaubte er Ingwer zu riechen. Er las weiter, bedächtig und mit manchmal bebender Stimme. Sein Vater und er hatten im Kerzenschein zusammengesessen und staunend von den fernen, exotischen Orten des Romans erfahren.
    Hier hauste vor alters der fabelhafte Drache von Wantley, hier ward manche verzweifelte Schlacht in den Bürgerkriegen der »Rosen« ausgefochten, und hier war es, wo in alten Zeiten jeneBanden tapferer Geächteten ihr Wesen trieben, deren Taten in den alten englischen Volksliedern besungen werden.
    Nach fünf Minuten klappte Shan das Buch zu, drückte es kurz an die Brust und stellte es ehrfürchtig zurück an seinen Platz. Dann zog er den geblümten Stoff wieder vor das Regal, ging hinaus und hinterließ die Eingangstür genau so, wie er sie vorgefunden hatte.
    Er umrundete das Haus, dann noch einmal den Stall und bog schließlich auf einen Pfad ein, der sich zwischen einigen hohen Felsvorsprüngen nach Nordosten schlängelte. Nach kaum sechzig Metern blieb er abrupt stehen. Auf einem flachen Stein saß eine Tibeterin in einem schwarzen Kleid. Sie hatte Shan den Rücken zugewandt und blickte in Richtung der Berge. Zu ihren Füßen lag ein großer brauner Hund. Shan trat absichtlich gegen einen Kiesel, um sich bemerkbar zu machen, und kam langsam näher. Der Hund verharrte reglos und bellte auch nicht, sondern bleckte nur still die Zähne.
    Als die Frau endlich das Wort ergriff, tat sie es ganz beiläufig, als habe sie ihn längst bemerkt. »Feierst du den Geburtstag?« fragte sie, drehte sich um und legte dem Hund beruhigend eine Hand auf den Kopf. Sie war etwa sechzig Jahre alt und trug ein halbes Dutzend Halsketten aus kunstvoll bearbeitetem Silber, Lapislazuli und Türkisen, wie man sie nur zu besonderen Gelegenheiten anlegte.
    »Ja«, erwiderte Shan zögernd und zog sich den Hut tiefer in die Stirn. »Lha gyal lo.«
    Sie lächelte melancholisch, erhob sich mit einiger Mühe und ging zurück zum Haus. Shan folgte ihr im Abstand von einigen Schritten.
    Auf der Veranda bedeutete sie ihm, sich auf einen kleinen Holzstuhl zu setzen. Dann fachte sie das Feuer unter dem Kessel an und sang ein altes Lied, das Shan bereits bei der Feier gehört hatte. Während das Wasser sich erhitzte, wiegte die alte Frau sich vor und zurück, hielt dabei die Gebetskette an ihrem Gürtel umklammert und schaute häufig zum östlichen Horizont, wo Zhoka lag. Nach einigen Minuten verschwand sie im Haus, kehrte mit einer kleinen Kupferschale voller Mehlzurück und streckte sie Shan entgegen. Er nahm eine Prise und wartete, bis die Frau es ihm gleichgetan hatte.
    »Lha gyal lo«, wiederholte Shan wehmütig und warf das Mehl empor.
    »Möge er ewig leben«, sagte die Frau und schleuderte ihr Mehl in die Höhe.
    Schweigend goß sie dann heißes Wasser in die kleinste der dongmas , gab Salz und Butter hinzu und machte sich an die Arbeit. Shan wußte nicht, was er sagen sollte. Seine Gastgeberin kam ihm sehr gebrechlich vor, und er wollte sie nicht aufregen.
    Nachdem sie den Buttertee eingeschenkt hatte, ging sie wieder hinein und brachte ein hölzernes Tablett mit Walnußkernen und kleinen weißen Kugeln

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