Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
Liya.«
    »Um welche Gottheiten ging es?«
    Sie beugte sich vor und fixierte ihn mit düsterem Blick. »Um die zornigen Beschützer.«
    »Aus welchem Grund?« fragte Shan.
    Die Frau erwiderte nichts, stand aber auf und führte ihn zum Stall. Drinnen hingen an einem Balken entlang der Rückwand mehrere alte thangkas . Sie wiesen allesamt starke Beschädigungen auf; eines war in der Mitte durchtrennt und wieder zusammengenäht worden, andere hatte man regelrecht durchlöchert. Darunter standen sechs bemalte Keramikstatuen, teils mit Rissen, teils nur noch in Bruchstücken vorhanden.
    »Gottestöter.« Das Wort drang Shan wie aus eigenem Antrieb über die Lippen. Sie sahen einander an. »Sind sie hergekommen?«
    »Nein. Wofür sollten solche Dämonen sich hier denn schoninteressieren? Die Hügelleute wissen noch, daß hier früher mal Künstler gelebt haben, und bringen diese Gegenstände, weil sie auf eine Wiederherstellung hoffen.« Sie ging schnell hinaus, als bereite der Anblick der zerstörten Kunstwerke ihr Schmerzen. Dann goß sie ihnen beiden Tee nach und bat Shan, sich wieder zu setzen.
    Schweigend tranken sie.
    »Würdest du es bitte noch einmal tun?« fragte die Frau plötzlich mit verlegenem Lächeln. »Du kannst es herbringen. Hier draußen ist besseres Licht.«
    Shan sah sie lange an und versuchte, den Sinn ihrer Worte zu begreifen. Dann stellte er den Tee ab, ging ins Haus und holte das Buch. Die Frau nickte zufrieden, schenkte abermals Tee nach und ließ sich schließlich auf einer Holzbank am Feuer nieder. Der Hund lag zu ihren Füßen.
    Shan las ihr eine Viertelstunde lang vor. Die Frau lächelte derweil, schaute mitunter verträumt in die Flammen und streichelte den Kopf des Hundes. Allmählich spürte Shan, daß sie weniger auf die eigentlichen Worte als vielmehr auf den Tonfall und den Sprechrhythmus reagierte, auf den Klang einer Stimme, die englisch las.
    Als er eine Pause einlegte, um einen Schluck zu trinken, streckte sie die Hand aus und strich über das Buch. »Du hast eine Stimme wie ein Lama«, sagte sie.
    »Ich muß hinauf in die Berge«, sagte Shan auf englisch.
    Sie errötete. »Ich nicht … verstehe gut«, sagte sie entschuldigend in derselben Sprache. »Es erinnert mich nur an früher«, fügte sie auf tibetisch hinzu. »An all die guten Jahre, als ich noch ein Mädchen war.«
    Als sie Shan ins Gesicht sah, begriff er, wie erstaunt er in diesem Moment dreinblickte. Die stille sanfte Frau hatte viele gute Jahre mit jemandem verbracht, der ihr aus englischen Büchern vorlas, und zwar vor mehr als einem halben Jahrhundert in den Bergen des südlichen Lhadrung.
    »Ich werde mich um Jara und deinen anderen Neffen kümmern«, versprach Shan.
    Sie lächelte. »Der andere mag es nicht, wenn man sich umihn kümmert. Er wird sich einfach verstecken«, gab sie zu bedenken. »Ich habe ziemlich viele Angehörige, aber so nett sie auch sein mögen, manche von ihnen sind Phantome und lassen sich nicht mehr blicken.« Sie klang nun bekümmert und seufzte. »Am besten vergißt du diesen anderen Neffen und alles, was ich über ihn gesagt habe.«
    Shan stand auf und gab ihr das Buch.
    »Falls du noch einmal hier in der Gegend bist, komm bitte vorbei und lies mir vor«, sagte sie und drückte ihm einige Walnüsse in die Hand. »Ich werde dir ein gutes Essen zubereiten.« Sie lief hinein, kehrte kurz darauf mit einer kleinen bemalten tsa-tsa von Buddha zurück und reichte sie Shan. In der anderen Hand hielt sie immer noch das Buch.
    »Warum sind Fremde in den Bergen?« fragte Shan und machte sich bereit für den Aufbruch.
    »Es wurden Gelübde gebrochen«, entgegnete sie mit jäher Verzweiflung, schien sich dann aber wieder zu fangen und lächelte. »Gute Reise.«
    »Ich heiße Shan. Deinen Namen kenne ich nicht«, sagte er.
    »Dolma«, sagte sie und drückte das Buch an die Brust. »Aber du darfst mich Fiona nennen.«
    Drei Stunden später befand Shan sich wieder bei dem alten Steinturm oberhalb von Zhoka. Nirgendwo war ein Lebenszeichen zu entdecken, weder auf den Hängen noch zwischen den Ruinen des Klosters. Er nahm ein weiteres Mal die Wandgemälde in Augenschein, umrundete langsam den gesamten Turm und blieb mehrmals stehen, um hinunter nach Zhoka zu schauen. Es kam ihm beinahe so vor, als würden die Ruinen ihn beobachten, als wäre das alte gompa irgendwie lebendig und nach langem Schlummer zu neuerlichem Bewußtsein erwacht. Es sei gefährlich, die Geheimnisse von Zhoka zu unterschätzen, hatte

Weitere Kostenlose Bücher