Der verlorene Sohn von Tibet
Atso den alten Lokesh gewarnt, doch Shan war sich sicherer als je zuvor, daß er diese Mysterien unbedingt ergründen mußte.
Rund um den Turm gab es frische Fußspuren, die von leichten Stiefeln stammten, wie sie weder die Soldaten noch normalerweise die Tibeter trugen. Jemand anders war hier gewesen.Shan ging hinein, kniete sich vor die von Surya übermalte Aufschrift und entzündete ein Streichholz. Jemand hatte mit einem Bleistift eine neue Botschaft hinterlassen. Nein, erkannte Shan, als er genauer hinsah und feststellte, daß die Schrift sich exakt in die wenigen dunklen Striche einfügte, die noch von dem ursprünglichen Text zu sehen waren. Jemand hatte die alten Worte erneuert. Sie mußten sich ihm wie durch Zauberei mitgeteilt haben – oder er hatte sie schon vorher gewußt. Es war die alte Schrift der heiligen Texte, und Shan hatte Mühe, die Nachricht zu entziffern. Om Sarvavidya Svaha , stand dort. Ehre das umfassende Wissen. Nach dem Mantra folgte noch mehr: Werde rein für den Erdpalast, und fürchte die Nyen Puk . Shan starrte die letzten Worte an. Nyen Puk. Das hieß Höhle des Berggottes.
Entlang der Klippe zwischen Turm und gompa , die Zhokas nördliche Begrenzung darstellte, fiel ihm nun zum erstenmal eine lange, flache Furche auf. Es war der Überrest eines früheren Pfades, dicht am Rand des Abgrunds. Shan folgte ihm etwa dreißig Meter weit, kniff im grellen Sonnenlicht die Augen zusammen, ging in die Hocke und musterte die kaum erkennbare Linie am Boden, die den weiteren Verlauf kennzeichnete. Er stellte sich vor, wie einst die Mönche diesen Weg beschritten haben mochten. Dann kehrte er auf den Kamm zurück und ließ noch einmal den Blick über die Landschaft schweifen. Der Klippenpfad mündete hier am Turm in den Hauptweg zu den Ruinen. Nach etwa vierhundert Metern zweigte dieser zum gompa ab, während ein wesentlich seltener benutzter Pfad weiterhin dem Berggrat folgte und letztlich oberhalb der Ruinen die gesamte Talsenke umrundete. Es handelte sich um einen kora , einen der Pilgerpfade, die es bei vielen alten gompas und Schreinen gab. Durch die Umrundung der Stätte erwarben die frommen Besucher sich spirituelle Verdienste. Der Turm war eine Station auf dem hiesigen kora gewesen, die erste Station für all jene, die aus Richtung Westen kamen, vermutlich also für den Großteil aller Reisenden. Das herrliche Gemälde im Erdgeschoß des Turms, das elegante Mantra und die durch Surya getilgte Inschrift unter dem Bild waren fürdie Pilger gedacht gewesen, um ihnen etwas über Zhoka mitzuteilen.
Shan folgte dem überwucherten Pfad entlang der Schlucht, hielt mehrmals inne und schaute über die Abbruchkante, weil er an seine verlorenen Schafgarbenstengel denken mußte. Als er die Ruinen erreichte, hielt er sich im Schatten und gelangte über den Innenhof mit dem neuen chorten schließlich zu dem verlassenen nördlichen Torhof. Nichts deutete mehr auf Gendun oder die anderen Tibeter hin. Da lag bloß der Türsturz mit seiner Botschaft, die für Ermittler ebenso passend schien wie für Pilger oder Mönche. Studiere nur das Absolute. Direktor Ming hatte diese Worte benutzt, hatte zuvor die Ruinen besucht und mit Surya gesprochen. Hatte Surya die Inschrift etwa wegen Mings Neugier übermalt? Aber er und der Direktor waren davor schon gemeinsam beim Turm gewesen.
Auf einmal wurde Shan etwas klar. Surya hatte die Worte getilgt, weil er unmittelbar zuvor, während des Aufenthalts in den unterirdischen Gängen, zu irgendeiner Erkenntnis gelangt war. Sie ließ ihn befürchten, Ming und seine Kollegen könnten sich für die Botschaft an der Turmwand interessieren und dadurch etwas Nachteiliges für Zhoka bewirken.
Auf dem Innenhof fand Shan eine Butterlampe. Sie stand an der Wand hinter dem Schrein und war dort während der nächtlichen Arbeit benutzt worden. Er entzündete sie und ging vorsichtig die Stufen hinunter. Die Blutlache in dem Raum mit den Malereien war immer noch da, wenngleich inzwischen zu einem dunkelbraunen Fleck vertrocknet. Shan schritt die Wände der Kammer ab. Die bedrückende Stimmung des Ortes war verflogen, und es roch nicht mehr nach Tod. Zum erstenmal, seit er es eingesteckt hatte, berührte Shan das merkwürdige, auf englisch verfaßte peche -Blatt und widmete sich dann wieder den Wänden. Er tastete alles ab, erforschte die schmalen Ritzen und kleinen Vorsprünge, untersuchte alle Ecken und ließ den Blick vom nackten Fels zu dem Abbild der geblendeten Gottheit wandern.
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