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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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aus getrocknetem Käse.
    »Du hältst mich bestimmt für verrückt«, sagte sie, blickte abermals nach Osten und seufzte. »Ich weiß, daß er eigentlich gestern Geburtstag hatte. Aber alle hier in den Hügeln sind weggegangen. In der Nacht zuvor kam ein schwarzes Pferd und hat sie geholt. Mein Neffe hatte versprochen, mich am Nachmittag zu besuchen, damit wir unsere eigene kleine Feier abhalten können.« Sie schlug eine Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. »Ich fürchte, jemand ist gestorben. Ich kenne die Leute. Nur ein Todesfall hätte sie von hier fernhalten können.« Ihre Augen schimmerten feucht. Sie beugte sich vor und barg ihr Gesicht in den Händen.
    »Hast du die ganze Nacht draußen gesessen?« fragte Shan.
    »Die Wolken haben den Mond versteckt. Ich wollte nicht, daß die anderen im Dunkeln mein Haus verpassen.« Sie zog ein schwarzes Kästchen aus dem Ärmel. »Deshalb habe ich das hier benutzt.«
    Shan streckte den Arm aus, und sie legte den Gegenstand auf seine Handfläche. Er hatte gesehen, daß die Armee solche Apparate einsetzte. Es handelte sich um einen GPS-Empfänger mit kleinem Bildschirm für die Anzeige von Längen- und Breitengrad. Die rote Leuchtdiode blinkte, also war das Gerät eingeschaltet. Es kostete mehr als ein halbes Dutzend tibetischer Jahresgehälter.
    »Ich habe das Ding von einem meiner Neffen bekommen«, erklärte die Frau, als Shan ihr den Empfänger zurückgab. »Er sagt, es hilft Menschen, den richtigen Weg zu finden. Aber es leuchtet nur ganz schwach. Ich habe es heute nacht hoch über meinen Kopf gehalten, damit die anderen es überhaupt sehen würden.«
    »Ich war dort«, sagte Shan. »In Zhoka.«
    »Du hast ihn gesehen, du hast meinen Jara und seine Kinder gesehen? Er ist zur Bushaltestelle in die Stadt und dann zurück zu seiner Herde gegangen. Ich hätte ihn nach Zhoka begleiten sollen, aber meine Beine sind zu schwach.« Sie hielt besorgt inne. »Er wollte ein kleines Mädchen vom Bus abholen, doch es waren Soldaten in der Stadt.«
    »Dawa?« fragte Shan. »Dawa war ebenfalls dort.«
    Die Frau strahlte und griff nach der mala an ihrem Gürtel. »Ich habe sie noch nie gesehen. Als ihre Mutter klein war, hat sie mir häufig am Brennofen geholfen.«
    »Jara und seine Familie werden bestimmt bald zurückkehren. Er hat sich den Fuß verstaucht. Ein paar Soldaten haben alle in Angst und Schrecken versetzt. Dawa ist nach Süden weggelaufen.«
    Die Frau stöhnte leise auf. »Nicht nach Süden. Sie ist auf den Süden nicht vorbereitet«, flüsterte sie in ihre Handflächen.
    Shan deutete auf den kostspieligen GPS-Empfänger. »Wo ist dein anderer Neffe, der dir diesen schwarzen Kasten geschenkt hat?«
    Die Frau blickte gequält auf und starrte dann ins Feuer. »Er lebt weit weg von hier.« Sie sah wieder Shan an und rührte sich, als wolle sie aufstehen. »Wenn Jara sich verletzt hat, wer wird dann Dawa von jenem Ort wegbringen? Ich werde gehen, und wenn ich kriechen muß! Ich werde gehen.«
    »Von welchem Ort?« fragte Shan, aber sie antwortete nicht. »Einer meiner Freunde ist Dawa gefolgt«, sagte er. »Es wird ihr nichts geschehen«, fügte er hinzu und hoffte, man würde ihm die Unsicherheit nicht anhören.
    Schweigend tranken sie den starken salzigen Tee. Der Blick der Frau blieb auf das Feuer gerichtet.
    »Als du gesagt hast, es sei jemand gestorben, klang das beinahe so, als hättest du damit gerechnet«, sagte Shan leise.
    »Alles Leben wird einst vergehen«, flüsterte sie. Die Zeile stammte aus einem alten Gebet über die Gewißheit des Todes.
    »Es hat einen alten Mann namens Atso getroffen. Er ist beim Aufstieg zu einer heiligen Höhle abgestürzt.«
    Die Frau blieb mehr als eine Minute lang stumm und seufzte dann. »Er hat darauf bestanden, mindestens einmal im Jahr zu der Gottheit zu klettern. Es war immer klar, daß er auf diese Weise sterben würde.«
    Shan sah zum erstenmal einen verkohlten Papierstreifen am Rand der Glut liegen. Das letzte Wort war immer noch leserlich. Phat . Die abschließende Silbe eines inbrünstigen Mantras zur Anrufung einer Gottheit. »Jemand hat ein Gebet verbrannt«, stellte er fest.
    »Ich hätte es nicht tun sollen.« Die Frau zog das Papier aus der Asche und strich es auf dem Knie glatt. »Das schwarze Pferd hat sie gebracht, eines für jede Familie. Sag es tausendmal auf, hat sie verlangt. Aber sie hat nicht erklärt, weshalb wir es danach verbrennen sollten.«
    »Liya?«
    Die Frau nickte. »Unsere

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