Der verlorene Sohn von Tibet
erläutert, aus welchem Grund er an eine Beteiligung von Tibetern glaubte oder weshalb er sich in Lhadrung aufhielt. Shan wandte sich an den Amerikaner. »Hat das FBI sich neuerdings der Bewahrung von Kunstschätzen verschrieben?«
»Es steht Ihnen nicht zu, uns zu befragen«, knurrte Yao.
Corbett ließ den Inspektor vorangehen und antwortete dann. »In unserer Pekinger Botschaft wurde eine Abteilung des FBI eingerichtet. Alle sind ganz wild auf eine amerikanischchinesische Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung, vornehmlich im Hinblick auf mögliche Terroranschläge.«
»Sie sind in Peking stationiert?«
»Nein, in Seattle. Im Nordwesten der USA. Als dieses Fresko in Peking verschwand, gab es in Seattle ebenfalls einen Diebstahl. Zur gleichen Zeit. Das Opfer ist ein Mann namens Dolan, einer der reichsten Bürger einer ohnehin wohlhabenden Stadt. Einer dieser Computer-Milliardäre.« Er zog einige kleine Fotos aus der Tasche und gab sie Shan. Darauf abgebildet waren Schaukästen mit sehr alten und überaus erlesenen tibetischen Artefakten: mit Edelsteinen besetzte gaus , eine verzierte silberne Butterlampe, Zeremonienmasken, ein kunstvoll gearbeitetes Kostüm und mehrere zierliche Götterstatuen. »Angeblich die weltweit beste Privatsammlung tibetischer Kunst. Dolan hat fünfzehn Jahre benötigt, um die Stücke zusammenzutragen. Es wurde alles gestohlen, insgesamt mehr als fünfzig Exponate. Der Versicherungswert liegt bei über zehn Millionen Dollar.« Das letzte Foto war die Luftaufnahme eines großen Backsteingebäudes mit mehreren Etagen, offenbar gelegen an einem Hang oberhalb der Meeresküste. »Die Kerle sind mitten in der Nacht gekommen, haben ein hochmodernes Alarmsystem ausgeschaltet und keinerlei Spuren oder Fingerabdrücke hinterlassen. Auch die Videoüberwachung wurde unterbrochen. Zurückgeblieben ist nur eines: ein totes Mädchen.«
Shan erstarrte. »Ein Mädchen wurde getötet?«
Corbett schaute nach vorn, als wolle er sicherstellen, daß Yao sich nicht in Hörweite befand. »Sie war dreiundzwanzig Jahre alt. Eine von drei Erzieherinnen, eine Kunststudentin, die den Kindern Malunterricht gegeben hat.« Das Gesicht des Amerikaners umwölkte sich, wenngleich Shan nicht sicher war, ob wegen des toten Mädchens oder wegen der Dunkelheit, die bedrohlich vor ihnen lag.
»Hören Sie!« Corbett blieb stehen und berührte Shan am Arm. »Sie sollten die Regeln kennen. Ich bin wegen der Diebesbeute und dem Mörder des Mädchens hier. Dies ist eine amerikanische Ermittlung, und wir führen sie auf amerikanische Weise durch. Alles klar?«
»Nein«, erwiderte Shan.
»Ich suche Verdächtige nicht nach politischen Kriterien aus. Ich konstruiere nicht zuerst eine Theorie und besorge mir dann die passenden Indizien, sondern ermittle Tatsachen, indem ich wissenschaftlich haltbare Verfahren und meinen Verstand anwende. Ich glaube nur an Fakten. Es zählen allein die Ergebnisse der Beweisaufnahme. Mein einziges Motiv lautet Gerechtigkeit, und niemand war je groß genug, um mich einschüchtern zu können.«
»Halb George Washington, halb Sherlock Holmes.«
Corbett war sichtlich verblüfft. »Wer, zum Teufel, sind Sie, Shan?«
»Jemand, der ebenfalls Gerechtigkeit will«, sagte er.
»Sehr gut. Bislang habe ich noch jeden Fall gelöst.«
»Und wie oft haben Sie schon diese kleine Rede gehalten?« fragte Shan, während sie weitergingen.
Corbett warf einen Blick in Yaos Richtung. »Bis jetzt erst einmal«, sagte er grinsend.
Yao hatte sich bei der Armee ein Dutzend Elektrolampen geliehen und sie in einem großen Beutel mitgebracht. Er schaltete die erste ein und stellte sie am Fuß der Treppe ab. Sobald Shan und Corbett ihn erreichten, ließ er sie je eine Lampe nehmen. Kurz darauf hatten sie im Abstand von jeweils zehn Metern Lichtquellen plaziert. Yao betrat den Raum, in dem er und Shan beim letztenmal zusammengetroffen waren.
Als Corbett folgen wollte, hielt Shan ihn kurz zurück. »Was heißt das, die Diebstähle seien gleichzeitig passiert?«
»In Seattle war es Nacht, in Peking hellichter Tag. Ich glaube, die Täter sind ungefähr zum selben Zeitpunkt mit ihrer Beute entkommen.«
»Bestimmt bloß ein Zufall.«
Corbett zuckte die Achseln. »Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Sie haben mir noch nicht erklärt, warum Sie ausgerechnet nach Lhadrung gekommen sind.«
»Wir haben gesucht. Mein Gott, wir haben jeden Stein umgedreht. Dolan war stinkwütend. Der Gründer einer der großen
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