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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Besuch Ihres Sohnes.«
    Shan starrte auf den kleinen Panda und sagte nichts.
    Yao zuckte die Achseln. »Dann warten Sie eben, bis er seine fünfzehn Jahre abgesessen hat, immer vorausgesetzt, Sie selbst bleiben bis dahin in Freiheit. Aber es sieht gar nicht gut aus …« Er seufzte theatralisch. »Aufgrund von Verstößen gegen die Sicherheitsauflagen hat man gegen ihn bereits dreimal schwere Disziplinarmaßnahmen verhängt.« Shan wußte nur zu gut, was man im lao gai unter schweren Disziplinarmaßnahmen verstand: Schläge, Elektroschocks und Zangen, die bevorzugt bei den kleinen Hand- oder Fußknochen angewendet wurden. »Ich fürchte, Ihr Ko wird die fünfzehn Jahre nicht überleben«, sagte Yao ernst.

Kapitel Sechs
    In Peking sei ein immens bedeutendes Kunstwerk gestohlen worden, erklärte Inspektor Yao, als sie der Kammlinie zu den Ruinen von Zhoka folgten. Es war erst früher Nachmittag. Tan hatte keine Zeit verloren und umgehend veranlaßt, daß man sie per Hubschrauber zurück zu dem alten Steinturm bringen würde. Dann hatten seine finster dreinblickenden Soldaten ein Mahl aus Klößen und Nudelsuppe serviert, das sie hastig und schweigend verzehrten. Als der Helikopter eintraf, waren der Oberst und Yao kurz in Streit geraten, weil Tan den Inspektor überreden wollte, eine bewaffnete Eskorte mitzunehmen. Yao setzte sich durch.
    »Ein Kunstwerk?« fragte Shan nun. »Ein Artefakt?« Nachdem er mit zögerndem Nicken eingewilligt hatte, den Männern im Austausch für eine Begegnung mit seinem Sohn behilflich zu sein, hatte Yao sogleich begeistert, beinahe fröhlich reagiert, als bedeute dies den Durchbruch in einem besonders schwierigen Fall. Shan hingegen konnte sich noch immer kaum erklären, wonach die Männer suchten oder weshalb sie sich ausgerechnet in Lhadrung aufhielten.
    »Ein Wandgemälde«, sagte Yao. »Ein Fresko.«
    »Ein chinesisches Fresko, das gar nicht chinesisch war«, warf Corbett ein. Er sprach schnell und ein wenig undeutlich, als habe er sein Mandarin im südlichen Teil Chinas gelernt. »Sie wissen ja, wie das mit Kunstwerken so ist. Für ein wertvolles Stück bringen manche Leute sich regelrecht um.« Das klang nach einem ziemlich abgedroschenen Scherz.
    Shan musterte den amerikanischen Ermittler. Der hochgewachsene Corbett war älter, als es dank seiner sportlichen Statur auf den ersten Blick schien. Shan schätzte ihn auf Mitte bis Ende Fünfzig und sehr berufserfahren. Vielleicht zu sehr.Er schien seine Launen gar nicht erst in den Griff bekommen zu wollen, wirkte oft ungeduldig, bisweilen wütend. »Wir sind hier falsch, Yao, das habe ich doch gleich gesagt«, klagte Corbett nun. »Es bleiben noch mindestens zehn andere Stätten zu überprüfen. Das hier sind bloß ein paar Ruinen. Eine Todesfalle.« Während des kurzen Fluges hatte der Amerikaner zumeist aus dem Fenster geschaut und mehrmals eine Landkarte zu Rate gezogen.
    Mehrere Kilometer nördlich von hier hatten sie eine kurze Zwischenlandung eingelegt und Vorräte ausgeladen. Ein Dutzend Chinesen, allesamt junge Männer und Frauen zwischen Zwanzig und Dreißig, arbeitete dort an einem Höhleneingang und räumte Schutt weg. Derweil schritt eine kurzhaarige Frau beständig auf und ab und las von ihrem Klemmbrett Textstellen aus einem Pilgerbuch vor, in denen geschildert wurde, welche Wunder im Innern der Höhle warteten. Yao und Corbett schienen in den Bergen nach einem Diebesversteck zu suchen. Aber das erklärte nicht, wieso Ming an den Höhlen interessiert war. Und die Gottestöter erklärte es auch nicht.
    Yao zuckte die Achseln und steuerte unbeirrt auf die Gewölbe zu. Es mochten Ausländer in den Fall verwickelt sein, aber die Ermittlungen fanden auf chinesischem Hoheitsgebiet statt. Damit erübrigte sich jegliche Diskussion darüber, wer die Leitung innehatte. »Der Raub liegt knapp zwei Monate zurück«, erklärte der Inspektor und sah Shan an, als sei er auf dessen Reaktion gespannt. »Und ereignet hat er sich in der Verbotenen Stadt.«
    »Aber dort sind überall Wachen«, sagte Shan. »Es ist praktisch eine Festung.« Die Verbotene Stadt war das jahrhundertealte Domizil der chinesischen Kaiser, ein riesiges Gelände mit Tempeln, Wohngebäuden und Versammlungshallen. Shan hatte einst fast jeden Weg und jede Kammer dort gekannt, denn ihm war in Peking schon früh bewußt geworden, daß die Verbotene Stadt viele stille Rückzugsmöglichkeiten bot. Das gesamte Areal wurde von einer hohen, dicken Mauer umgeben, und für die

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