Der verlorene Sohn von Tibet
normalen Besucher standen lediglich zwei streng überwachte Eingänge zur Verfügung, einer im Norden, der andere im Süden.
»Im oberen Teil der Stadt gibt es ein kleines Wohnhaus, das als Ruhesitz für Kaiser Qian Long gebaut wurde.« Qian Long war einer der dienstältesten Mandschu-Regenten und berühmt für seine Gerechtigkeit und Güte gewesen. Nach einer Regierungszeit von sechzig Jahren hatte er Ende des achtzehnten Jahrhunderts abgedankt.
»Ich kenne das Gebäude«, sagte Shan und hielt unterdessen nach Gendun Ausschau. »Das Vordach ruht auf rot lackierten Säulen. Auf der Rückseite gibt es einen kleinen Hof mit einem Springbrunnen. An den Wänden wachsen Glyzinien. Ich habe früher oft auf diesem Hof gesessen. Aber das eigentliche Haus war immer verschlossen.«
»Und zwar seit vielen Jahrzehnten«, bestätigte Yao. »Genaugenommen wurde seit dem Tod des Kaisers kaum etwas daran verändert. Dann hat man entschieden, die Räume zu restaurieren und für Touristen zu öffnen. Handwerker gingen ein und aus. Der Kaiser hatte damals ein herrliches Wandgemälde in Auftrag gegeben und zu diesem Zweck sogar einen namhaften italienischen Künstler engagiert. Einer unserer Bautrupps war damit beschäftigt, die Zedernbalken in der Decke des Eßzimmers zu erneuern, wurde eines Morgens aber zu einer Reparatur auf der anderen Seite des Geländes gerufen. Als die Leute am nächsten Tag zurückkehrten, war das italienische Fresko verschwunden. Man hatte ein etwa zweieinhalb mal ein Meter großes Stück der Wand komplett herausgeschnitten, so daß nur die blanken Holzbalken blieben.«
Shan blickte zu dem dunklen Gewölbeeingang. War Yao hier, weil man auch in Zhoka ein Fresko gestohlen hatte? Doch Shan hatte ihn erst am Vortag auf diesen Diebstahl aufmerksam gemacht. »Soll das heißen, der Ministerrat fahndet nach einem fehlenden Wandgemälde?« fragte er skeptisch. Das Spiel, das Yao hier spielte, kam ihm bekannt vor. Erzähl niemals die ganze Geschichte, nicht mal in deinem Abschlußbericht, und behalte stets einen Teil der Fakten für dich. Jeder leitende Ermittler in Peking hielt sich instinktiv an diese Regel. Yao arbeitete für die höchsten Parteibosse, also mußte er meisterhaft mit den Tatsachen jonglieren können, bis die politische Wahrheit des Falls zutage trat.
Corbett, der mittlerweile am oberen Ende der Treppe stand, gab ein Geräusch von sich, das wie ein amüsiertes Prusten klang. Er hatte in die Schatten hinabgestarrt, wo er zuletzt nur knapp dem Tod entronnen war, doch bei Shans Frage drehte er sich um. »Der Vorsitzende höchstpersönlich hat Qian Longs Fresko einer Delegation aus Europa präsentiert«, erklärte der Amerikaner.
Yao warf ihm einen verdrießlichen Blick zu und fuhr fort. »Es wurde beschlossen, das Gebäude der europäisch-chinesischen Völkerfreundschaft zu widmen. Das besagte Wandgemälde sollte dabei im Zentrum stehen, als perfektes Symbol der Bande zwischen Ost und West. Die Regierungen Europas wollten die Kosten der Restaurierung übernehmen, und die feierliche Eröffnungszeremonie war für einen bald bevorstehenden Staatsbesuch geplant.« Yao starrte Shan herausfordernd an, als wolle er ihn zu einer Äußerung verleiten.
Shan erwiderte den Blick. Er hatte Peking vor mehr als fünf Jahren verlassen, doch die Zuständigkeiten der ranghöchsten Ermittler wurden dort immer noch nach denselben Kriterien vergeben. Yao war nicht wegen des Diebstahls hier, sondern wegen der politischen Brisanz des Vorfalls.
»Kaiser Qian Long stand in einer besonderen Verbindung zu Tibet«, erinnerte Shan sich. »Seinem Hof gehörten tibetische Lamas an, und vermutlich hatte er in seinem Haus auch tibetische Kunstwerke.«
»Das stimmt. Nichts davon wurde angerührt.«
»Demnach sind Sie in Tibet, weil man ein europäisches Gemälde entwendet hat«, spöttelte Shan.
»Der Vorsitzende war außer sich. Er betrachtete den Diebstahl als persönlichen Affront und ließ meinem Büro präzise Anweisungen übermitteln.«
»Und was ist mit Direktor Ming?« fragte Shan.
»Ming hat die volle Unterstützung seiner Institution angeboten. Er verfügt in dieser Hinsicht über umfassende Erfahrungen, war bereits an der Restaurierung und Neugestaltung des Gebäudes beteiligt und hatte sogar schon einen seiner Sommerkurse für Lhadrung geplant.« Yao verzog mürrisch dasGesicht. »Sie haben nicht das Recht, Fragen zu stellen. Sie sollen uns mit den Tibetern helfen, sonst nichts.«
Aber Yao hatte nicht
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