Der verlorene Sohn von Tibet
sicher, weshalb Sie aus der Haft entlassen wurden. Ich weiß nur, daß es auf Tans Anweisung hin geschah. Aber Tans Anweisungen können widerrufen werden.«
Shan sah ihn teilnahmslos an und ermahnte sich ein weiteres Mal, nicht auf Yaos nachlässiges Äußeres hereinzufallen. Der Mann besaß großen Einfluß und war zweifellos ein hochrangiges Parteimitglied. Die kalte, berechnende Art und beiläufige Grausamkeit dieser Funktionäre war ihm längst zur zweiten Natur geworden. »Falls Sie die Bevölkerung dieser Gegend verstehen wollen«, sagte Shan nach einem Moment, »müssen Sie begreifen, was Sie hier vor sich sehen und was diese Leute in den letzten fünfzig Jahren durchgemacht haben.«
»O nein«, widersprach Yao barsch. »Tibeter begehen Verbrechen aus Angst, aus Gier und aus Leidenschaft, genau wie jeder andere. Es ist immer das gleiche. Letztendlich liegt es daran, daß der kriminelle Verstand sich weigert, den Direktiven des Sozialismus zu folgen.«
Shan wich dem stechenden Blick nicht aus. »In Peking feiern Sie damit bestimmt stürmische Erfolge, Inspektor Yao.«
Yao verzog den Mund. Dann hob er achselzuckend das Funkgerät. »Die Helikopterpatrouillen melden sechs oder sieben Tibeter in den Bergen südlich von hier. Ein Mann und ein Kind sowie eine weitere Gruppe von drei oder vier Personen mit Schafen. Wir werden die Leute einsammeln, damit auch sie ihren Beitrag leisten können. Ihnen zuliebe habe ich es mir anders überlegt, Shan. Ich möchte unbedingt wissen, was aus dem Mordopfer geworden ist und wo seine Knochen geblieben sind. Im Augenblick kann ich mir gar nichts Wichtigeres vorstellen.«
Ein Mann und ein Kind. Die Patrouillen hatten Lokesh und Dawa entdeckt.
»Das können Sie nicht tun«, widersprach Shan.
»Es wurde bereits ein Trupp damit beauftragt.«
»Falls Sie weiterhin Hubschrauber in die Berge schicken, werden Sie in meilenweitem Umkreis sämtliche Tibeter verscheuchen.« Shan bemühte sich, seine Wut zu unterdrücken. »Die Leute werden sich dermaßen gründlich verstecken, daß man sie tagelang nicht mehr ausfindig machen kann.« Unschlüssig musterte er die Schädel. Er fühlte sich, als würde er nun einen Verrat begehen, doch er war sich nicht sicher, an wem. »Ich weiß, wohin die Toten gebracht werden«, sagte er leise und schicksalsergeben. »Ich weiß, wer uns mehr über Gebeine erzählen kann. Ziehen Sie die Soldaten ab, und ich bringe Sie zu den Toten.«
Kapitel Sieben
»Sie trieb unter der Oberfläche und sah mich an«, berichtete Corbett mit zittriger Stimme. Shan, Yao und er hatten den Aufstieg zu den südlichen Gipfeln begonnen und rasteten an einem Bach. Der Amerikaner erzählte von dem gespenstischen Moment, in dem er die Leiche der ermordeten Erzieherin zum erstenmal zu Gesicht bekommen hatte. »Da waren mindestens hundert Leute, schauten über die Reling, schrien auf, fielen in Ohnmacht oder riefen nach der Crew, aber sie hat nur mich angesehen.« Er schaute von den fernen Bergen nun wieder zu Shan und Yao und rang sich ein verlegenes Lächeln ab. »Ein Gerichtsmediziner hat mir mal erklärt, daß so etwas bei Leichen öfter vorkommt. Ihre Blicke scheinen überall und nirgends hinzuwandern. Diese Tote hat mich fortwährend angestarrt, als wäre sie eine Zombie-Mona-Lisa.«
»Mona Lisa?« fragte Shan und hockte sich ans Ufer.
Corbett zuckte die Achseln. »Ein Gemälde. Die Hafenpolizei kam, um sie zu bergen. Um ihre Arme und Beine hatten sich Algen gewickelt. Ich habe geholfen, sie davon zu befreien.« Er sah auf seine Hände. »Sie war dreiundzwanzig Jahre alt. Ihre Ohrringe sahen aus wie kleine silberne Schildkröten. Bei den Chinesen stehen Schildkröten doch eigentlich für ein langes Leben, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie so viel über chinesische Bräuche?« fragte Shan nach kurzem Zögern, schöpfte Wasser zum Mund und schüttete sich die nächste Handvoll über den Kopf.
»Ich habe als Polizist in San Francisco angefangen. Nach meiner Beförderung zum Detective war ich sieben Jahre für Chinatown zuständig.«
Als sie weitergingen, verflog die gedrückte Stimmung des Amerikaners, und er schritt nahezu beschwingt neben Shanaus, fragte ihn nach tibetischen Begriffen oder nach den Namen von Blumen, bewunderte mehr als einmal den großartigen Anblick des schneebedeckten Himalaja im fernen Südwesten und hob sogar einen Stein vom Wegesrand auf. Jemand hatte Schriftzeichen in die Oberfläche geritzt, die unter dem Flechtenbewuchs kaum noch zu erkennen
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