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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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waren. »Ein Gebet, nicht wahr?«
    »Das ist ein mani -Stein«, erklärte Shan. »Pilger kaufen ihn oder fertigen ihn selbst an und lassen ihn dann irgendwo zurück, damit andere gesegnet werden und sie selbst sich Verdienste erwerben. Dieser hier könnte viele hundert Jahre alt sein.«
    Corbett blieb stehen und bestand darauf, daß Shan ihm die korrekte Aussprache des Gebets beibrachte. Om mani padme hum . Dann wiederholte er die Worte, schob etwas Schotter zu einem kleinen Hügel zusammen und legte den Stein darauf. »Ich bete, daß wir William Lodi finden«, sagte er und stand auf. »Den Doppelmörder.«
    »Es muß eine sehr unangenehme Aufgabe sein, nach Wasserleichen zu suchen«, sagte Shan, als sie eine Viertelstunde später erneut eine Pause einlegten.
    »Das habe ich gar nicht«, sagte Corbett. »Sie hat mich gefunden. Ich bin bloß an Bord der Fähre quer über die Bucht gefahren. Bis dahin wußte ich noch gar nichts von ihrem Verschwinden. Man hatte mir den Fall Dolan übertragen, ohne das Mädchen zu erwähnen. In der Zeitung war kurz über eine vermißte Studentin berichtet worden, aber ich hatte die Meldung nicht mal gelesen. Dann trieb sie plötzlich vor mir, die Dolan-Erzieherin, die niemand mehr seit der Nacht des Diebstahls gesehen hatte. Der Zusammenhang wurde mir schnell klar. Sie muß eine Augenzeugin gewesen sein. Lodi hat sie erwischt und beseitigt. Dann ist er zum Feiern in diese Bars gegangen.«
    »Also sind Sie wegen des Mädchens hier?« fragte Shan.
    Die Frage schien Corbett nicht zu gefallen. »Das habe ich doch bereits erklärt. Die Fall wurde mir zugewiesen. Ich spreche Chinesisch. Jemand mußte Lodi folgen.« Er biß die Zähne zusammen und ging weiter. Die Unterhaltung war beendet.
    Der Weg verlief durch eine der schroffsten Landschaften, die Shan je erlebt hatte. Die meiste Zeit herrschte drückendes Schweigen, und Yao hielt sein Funkgerät wie eine Waffe umklammert. Eine halbe Stunde jenseits der Stelle, an der Lokesh, Dawa und Liya kampiert hatten, betraten sie eine enge Kluft mit sechzig Meter hohen und fast senkrechten Wänden. Als sie schließlich wieder aus dem Halbdunkel zum Vorschein kamen, keuchte Corbett auf und wich erschrocken sofort in den Schatten zurück. Der Hang vor ihnen war voller Skulpturen, lauter schaurig verzerrten Steingebilden, die jemand dort aufgestellt zu haben schien, um Reisende von der Südroute fernzuhalten. Es handelte sich nicht um menschliche Formen, sondern um grobschlächtige Gestalten, die an undeutliche, finstere Alptraumkreaturen erinnerten.
    »Das war bloß der Wind«, sagte Shan. »Der Fels ist im Laufe der Jahre erodiert.« Er hielt unwillkürlich nach Lokesh und Dawa Ausschau. Sein alter Freund würde an einem solchen Ort stundenlang verweilen, zwischen den verdrehten Steinsäulen umherwandern und sie ehrfürchtig berühren, denn für ihn käme niemals nur der Wind als Urheber in Betracht. Shan näherte sich dem ersten Gebilde, einem drei Meter hohen Felsen, der wie ein vor Schmerz geduckter Mensch aussah. Bei trüberem Licht würde man riesige Skelette und grotesk entstellte Tiere zu erkennen glauben. Wenn die hiesigen Gottheiten schon das Land auf diese Weise formten, was hatten sie erst mit der Bevölkerung angerichtet?
    Aus dem Augenwinkel registrierte Shan eine Bewegung und glaubte eine Sekunde lang, er sei tatsächlich auf Lokesh gestoßen. Doch der Mann, der dort neben einer der Skelettsäulen stand und sie neugierig betrachtete, war Yao. Shan beobachtete den Inspektor für einen Moment und eilte dann weiter den gewundenen Pfad entlang. Corbett folgte dicht hinter ihm.
    Als sie das Ende des Skulpturenfelds erreichten, warteten sie auf Yao.
    »Agent Corbett, stimmt es, daß die Justiz in Amerika allein auf Fakten basiert?«
    »Natürlich. Es zählen nur die Beweise.«
    »Dann müssen Sie sich hier besonders in acht nehmen«, warnte Shan leise. »Sie befinden sich in einer Welt, die nicht aus Fakten konstruiert ist.«
    »Pekings Politik kümmert mich einen feuchten Kehricht. Und ich erkenne eine Tatsache, wenn ich sie sehe.«
    »Ich rede jetzt nicht von Politik.« Shan wies auf die nächstbeste Säule. »Was sehen Sie dort?«
    »Bröckelnden Sandstein.«
    »Viele Tibeter würden überhaupt keinen Stein sehen, sondern nur das Werk mächtiger Götter. Andere würden diese Gebilde als perfekte Symbole für die Vergänglichkeit der Welt begreifen und darüber meditieren. So mancher würde eine lange Reise auf sich nehmen, um diesem Ort

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